Ausgabe 07 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1901

12. Juli bis 22. August

Radelnde Minister: Es ist sicher von Interesse, zu erfahren, daß zwei unserer Minister dem Radsport huldigen. Herr von Podbielski, der neue Landwirtschaftsminister, bewegt sich auf dem sicheren Dreirad. Freiherr von Rheinbaben hingegen, der Nachfolger Miquels, bevorzugt das schneidigere Zweirad.

Für die deutsche Südpolar-Expedition, die auf dem Schiff „Gauß" am 4. August zu ihrer mehrjährigen Fahrt aufbrechen soll, bekundet sich in weiten Kreisen Deutschlands ein reges Interesse, das sich auch praktisch in allerlei Schenkungen ausspricht, die den tapferen Männern die Einsamkeit ihres Aufenthalts in den Eiswüsten des Südpols erträglicher machen sollen. In Norwegen geschah seinerzeit ähnliches mit der Expedition der „Fram". Unter den Gaben für die „Gauß" befinden sich unter anderem je 1000 Flaschen Münchener Bier, die von den betreffenden Brauereien gespendet wurden. Die großen Weinhandlungen Lübecks schicken je eine Kiste Bordeaux, eine aus Berlin 500 Flaschen Mosel. 500 Flaschen Rotwein hat auch die Geographische Gesellschaft in Lübeck gestiftet, die von Greifswald 72 Flaschen französischen Champagner. Aus Görlitz traf ein Fäßchen Malaga ein. Conserven schenkten verschiedene Firmen. Auch an Tabak und Cigarren sind Gaben in Aussicht gestellt. Von besonderem Wert ist das Geschenk eines eigens für die Fahrt konstruierten Pianinos, das Herrn Carl Ecke in Berlin zu verdanken ist. Die Firma Carl Zeiß in Jena lieh viele ungemein wertvolle optische Instrumente. Auch Bücher, ein sehr wesentlicher Artikel, sind unter den Geschenken. So überreichte Justus Perthes in Gotha der Schiffsbibliothek eine vollständige Serie von „Petermanns Mit-theilungen" und zwei Exemplare von Stielers Handatlas. Aus Kiel stammt eine ansprechende Mannschaftsbibliothek. Aus Berlin ist der „Allgemeine Verein für deutsche Literatur" mit einer Serie seiner Ausgaben vertreten. Hoch erfreulich ist es, daß sogar aus England wertvolle Gaben gleicher Art einlaufen. So hat die Royal Society in London das ganze großartige Challenger Werk geschenkt. Andere Werke sind vom British Museum übersendet worden. Bei der „Fram" hatten sich seinerzeit norwegische Maler eine Ehre daraus gemacht, die Kajüte des Schiffs mit Gemälden auszuschmücken. Etwas Ähnliches wird auch hier geschehen, indem der ausgezeichnete Tiermaler Kuhnert einige seiner Bilder stiften wird.

Der Generalstreik der Flaschenarbeiter erstreckt sich auch auf die Stralauer Glashütte. Alle Glasmacher, Schürer und Pfleger der Stralauer Glashütte und deren Zweigniederlassung in Rausch i. Schlesien reichten am 13. Juli ihre Kündigung per 27. Juli ein. Die Glasmacher wollen die Glashütte veranlassen, zur Beendigung des Streiks auf den Glashütten Schauenstein und Neinburg beizutragen sowie die Anerkennung eines durch die Arbeiter geleiteten Arbeitsnachweises.

Der Aufschlitzer gefasst! Seit längerer Zeit werden Damen in den Straßenbahnwagen mittels einer Taschenschere die Kleider zerschnitten. Der Täter ist jetzt in der Person des begüterten Baumeisters Kr. aus dem Westen Berlins verhaftet worden. Zumeist in später Abendstunde zerschnitt er die Kleider neben ihm sitzender Damen mit einer Schere, ohne daß sie den Frevel im ersten Augenblick bemerken konnten. Der Unhold wurde jetzt auf frischer Tag abgefaßt. Er räumt die ihm zur Last gelegten Taten ohne weiteres ein, macht aber geltend, daß er unter dem Druck krankhafter Neigungen gehandelt hat. Kr. ist verheiratet und Vater zweier Kinder.

Ein eigenartiges Mißgeschick widerfährt dem Buchhalter einer großen Berliner Firma, der mit seiner Familie in der Nähe von Coepenick eine Sommerwohnung bezogen hat und täglich zur Fahrt von und nach Berlin mit einigen anderen Herren ein Motorboot benutzt. Der Buchhalter erhält am 16. Juli zum Schluß des Geschäfts den Betrag für einen Wechsel in Höhe von 14500 Mark. Zur Sicherheit nimmt er das Geld an sich. Als er wie gewöhnlich zurückfährt, versagt an der Stralauer Brücke plötzlich der Motor und die Insassen des Bootes sehen sich gezwungen, zu den Rudern zu greifen, nachdem sie sich ihrer Oberkleider entledigt haben. Bei einem plötzlichen Windstoß gerät das kleine Fahrzeug ins Schwanken, wobei der Rock des Buchhalters ins Wasser fällt. Das Kleidungsstück wird zwar schnell wieder herausgefischt, die das Geld bergende Brieftasche ist aber verschwunden. Einer der Herren, der ein guter Schwimmer und Taucher ist, versucht mehrmals vergeblich, den Schatz zu heben. Endlich, nach langen Bemühen erscheint der Retter in Gestalt eines Schiffers, der mit einer langen Stange die Tasche wieder an Tageslicht befördert. Die Scheine sind zwar völlig durchnäßt, aber sonst unversehrt. Der Finder erhält sogleich eine reichliche Belohnung.

Falko Hennig

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