Ausgabe 07 - 2001 berliner stadtzeitung
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Poeten, helft uns!

Die Stadt als Schmetterling: Was vom „internationalen literaturfestival berlin" bleibt

Wieviel Literatur braucht eigentlich die Hauptstadt? Nach dem „Berliner Sommerfest der Literaturen" stellt sich doch langsam Ermüdung ein. Vorangegangen waren dem einwöchigen Spektakel, dessen Höhepunkt die „Weltklang"-Lyriknacht auf dem Potsdamer Platz am 30. Juni bildete, ganze zehn Tage Marathon-Leseprogramm beim „internationales literaturfestival berlin" (ilb). Während immer weniger gelesen wird, anspruchsvolle Literatur es immer schwerer hat, schießen gleichzeitig „Events" rund um Bücher und Autoren ins Kraut. 20 Minuten einem Autor zuhören, das geht gerade noch.

Was nun vom ilb bleibt, das ist neben einem fetten Festivalkatalog eine sogenannte Berliner Anthologie: Die Welt über dem Wasserspiegel. Herausgeber Ulrich Schreiber, der das ilb initiiert hatte, will damit nicht zuletzt Stellung beziehen gegen die mittlerweile auf etliche Bände angeschwollene „Frankfurter Anthologie" von Marcel Reich-Ranicki. Während man in Frankfurt aber Gedichte interpretieren und kommentieren läßt, ist das Berliner Produkt ein bloßes Sammelsurium von Texten ­ eine von den vielen Anthologien, die unter mehr oder minder willkürlichen Motti Gedichte kompilieren. Die Gedichte der „Berliner Anthologie" sollen jedenfalls für sich sprechen und, wie der in Sachen Weltpoesie offenbar unvermeidliche Joachim Sartorius, Festspiel-Intendant und schlechter Lyriker, in seinem Vorwort schreibt, „eine Botschaft für Berlin enthalten". Welche Botschaften das im Falle von Mörikes „Auf eine alte Lampe" oder von Pura Lopez Colomés „Du, blauer Vogel/du hellsichtiger Papagei" sein mögen, darüber kann man wahrscheinlich lange rätseln.

Frank Berberich von Lettre International stimmte bei der Präsentation der „Berliner Anthologie" wieder einmal das Klagelied von der Provinzialität Berlins an. Woran es noch immer mangele, das seien der Metropole angemessene „Weltbürger". Um die Kosmopoliten Berberich und Schreiber muß es einsam sein, also: Schriftsteller aller Länder, helft uns ­ mit euren Gedichten! Zeigt den Berlinern, was Weltoffenheit und Internationalität ist!

Die Welt über dem Wasserrspiegel (ein Dylan Thomas-Zitat) spiegelt das ilb, das sich freilich nicht auf Lyrik beschränkte: ein internationales Stimmengewirr. Schreiber wollte nämlich hoch hinaus und nicht weniger als eine „Berlinale der Literatur" établieren. Obwohl das Presseecho groß war, zeigte er sich beleidigt und beklagte unverständlicherweise mangelnde Unterstützung durch die Medien. Was hat der Mann eigentlich erwartet? Wie bei der „richtigen" Berlinale war es schwierig, sich in dem ausufernden, an Höhepunkten keineswegs armen Programm zu orientieren, waren die Qualitätsschwankungen beträchtlich und rote, programmatische Fäden kaum auszumachen. Schreiber hatte immerhin ein kluges Jurorensystem ausgetüftelt, um die Literaturen wirklich aller Erdteile, vermittelt von Fachleuten, berücksichtigen zu können. Wenn man sich allerdings die deutschen Teilnehmer ansieht – Kunert, Genazino, Staffel, Böttcher – dann kann man nur hoffen, daß aus den anderen Sprachräumen kundiger ausgewählt wurde; so weit ich das beurteilen kann, war das aber durchaus der Fall.

Für die Anthologie waren 33 Autoren aufgefordert worden, jeweils drei ihrer Meinung nach für Berlin relevante Gedichte aus der Weltliteratur auszuwählen, die in dem edel gestalteten Buch mit Übersetzung abgedruckt sind. Neben unvermeidlichen Anthologie-Klassikern wie Brecht, Celan oder Octavio Paz kann man Entdeckungen machen, denn wer kennt schon den rätoromanisch schreibenden Leo Tuor oder Ken Bugul aus dem Senegal, von der sogar ein berlinbezogenes Gedicht abgedruckt ist: „Mythenstadt!/Berlin!/Mystische Stadt!/Berlin!/Torstadt/ Berlin!/Mauerstadt/öffnet sich von neuem der Welt/Wie die Flügel eines Schmetterlings (...)" – Zuspruch für die Weltbürger um Ulrich Schreiber.

Insgesamt bleibt doch der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit. „Stimmenvielfalt!", „Internationalität!" mag man einwenden und hat damit doch die Frage nicht beantwortet, zu welchem Ende die PR-Maschinerie der Berliner Literaturfestivals überhaupt angeworfen wird. Es gibt offenbar ein diffuses Bedürfnis nach (irgendeiner Art von) Poesie ­ als Kompensation für, sagen wir ruhig, das Leben in der verwalteten Welt. Weitere Nachfragen, um welche Art von Literatur es gehen könnte/sollte, was aus ihr allenthalben zu lernen wäre, sind nicht erbeten. Das Gedicht in der unverständlichen fremden Sprache, es klingt einfach schön.

Während die ganze Stadt vom ilb mit Events überzogen wurde, versammelte sich am 22. Juni ­ durchaus symptomatisch ­ eine kleine verschworene Gemeinde in der Akademie der Künste, wo dem großen Paul Wühr der F.-C.-Weiskopf-Preis verliehen wurde. Die Dankesrede des 1927 geborenen Bayern war ein Plädoyer für eine widerständige Literatur, für eine subversive „Ästhetik des Falschen". Klaus Ramm brachte es in seiner Wühr-Laudatio auf den Punkt: Das eigentliche Zentrum heutigen Schreibens liegt an der Peripherie, unbehelligt vom Literaturbetrieb.

Florian Neuner

Ulrich Schreiber (Hg.): Die Welt über dem Wasserspiegel. Berliner Anthologie. Alexander Verlag, Berlin 2001. DM 28,90

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