Ausgabe 07 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Verlorene Posten, vertikale Bücher

Eine Begegnung mit dem amerikanischen Schriftsteller Raymond Federman

Raymond Federman ist als Autor ebenso für seinen respektlosen Umgang mit Gattungsgrenzen wie für das Erzählen guter Geschichten bekannt – auch als Gast im Literarischen Colloquium Berlin im April enttäuschte er sein Publikum nicht. Eigentlich war ein Vortrag über den Untergang des Romans im Spätkapitalismus (und mögliche Gegenmaßnahmen) angekündigt, Federman las jedoch auch aus seinem neuen Buch Loose Shoes.

Federman gilt als vielseitiger Schriftsteller, seitdem 1971 sein erster Roman Double Or Nothing – die autobiographische Erzählung seiner Ankunft 1947 in den USA – erschienen ist. So entstand ein Werk, das auf die Künstlichkeit von Gattungseinteilungen aufmerksam macht und die LeserInnen auffordert, die unterschiedlichen Erzählmodi wie Fiktion, Historiographie oder Autobiographie neu zu definieren. Federman selbst sagt dazu: „Wenn ich eine Geschichte über mein Leben erzähle, dann mache ich keinen Unterschied zwischen dem, was ich erlebt habe und dem, was ich mir vorstelle erlebt zu haben."

Federman wurde 1928 als französischer Jude geboren; er war dreizehn Jahre, als die Nazis, zusammen mit der französischen Armee, seine Familie zur Deportation zusammentrieben. Vorausahnend versteckte ihn seine Mutter in einem Schrank, der nicht durchsucht wurde, so überlebte er. Später erlangte er Gewißheit darüber, daß seine zwei Schwestern und seine Eltern in den Gaskammern von Auschwitz umgebracht wurden. Seine Situation als Jude in Europa, sein Überleben, seine Emigration in die USA, seine Erlebnisse in der US-amerikanischen Armee, der spätere Kontakt mit den Überlebenden seiner Familie sowie seine unendliche Liebesaffaire mit dem Jazz – all diese Themen tauchen in seinen Romanen und Gedichten immer wieder auf. Stilistisch hingegen hat das Œuvre Samuel Becketts intensiv auf Federman gewirkt.

Federmans künstlerische Arbeiten sind als „experimentell" oder „postmodern" bezeichnet worden. Im US-amerikanischen Kontext ist die Bezeichnung „experimentell" kein Kompliment für einen Schriftsteller, eher wird so sein Werk als „exzentrisch" abgestempelt, womit LeserInnen vor der Lektüre eines Buches gewarnt werden, das Mühe und Geduld erfordert. Von dieser Warte aus ­ des zwar erfolgreichen, aber gleichzeitig unbekannten und unterschätzten Schriftstellers ­ hielt Federman seinen „Der verlorene Posten der Literatur" betitelten Vortrag.

Die Literatur sei in Gefahr, so Federman, aus Marktinteressen und infolge anderer vorherrschender Formen der Informationsverbreitung, vor allem des Fernsehens, zu bloßer Unterhaltung zu werden. „Einige Leute fragen mich, ‚Hey Federman, warum schreibst du nicht fürs Fernsehen oder fürs Kino?', und ich antworte denen, daß der Roman der einzige Ort ist, wo ich noch gut schreiben kann." Er zeigte Symptome dieses Wandels auf, welche deutlich machten, wie Bücher als leere Produkte verkauft werden und wie der Inhalt der Bücher selbst ausgedünnt wird, nach und nach reduziert auf schematisierte Geschichten, die vielleicht zur Unterhaltung dienen können, aber nicht mehr provozieren oder herausfordern. Der Bestseller werde heutzutage schon im Hinblick auf seine Zukunft als Fernsehserie oder Hollywoodfilm geschrieben, diese Art von Buch mit schematisiertem Inhalt sei erfolgreich dabei, den immer obskurer werdenden Typ von Werk, der als Literatur bekannt ist, zu verdrängen. Federman zitierte einen der führenden US-amerikanischen Buchhändler mit den Worten: „Einige verkaufen Schuhe, ich verkaufe Bücher, wo ist da der Unterschied?" Werden Bücher als bloße Ware betrachtet, ist es tatsächlich so, daß ihr Wert über Marktanteile und Einträge in Bestsellerlisten bestimmt wird und nicht durch die ihnen innewohnende Kraft ihrer Ideen. Dieses klassische marxistische Argument endet mit der Hoffnung auf die Transformationskraft der Ästhetik, während Federman zum Widerstand gegen den Markt durch die Integrität des Werks selbst aufrief. Er forderte die Literatur dazu auf, diesen Posten zu beziehen, „auch wenn es ein verlorener sein könnte".

In der anschließenden Diskussion ging Federman auf einige Fragen des Publikums ein.

Angesichts seines Entsetzens über den Niedergang der Literatur und eines gebildeten Lesepublikums fragte jemand herausfordernd: „Was halten sie von Harry Potter?"

Es ist eines dieser Phänomene – ich warf einen Blick hinein und kaufte es zusammen mit Tomaten im Supermarkt, ich las zwölf Seiten daraus, okay, vielleicht brauchen die Leute so was, nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen, aber nein, es tut mir leid, ich lese auch nicht Stephen King, ich lese dieses Zeug nicht, ich habe keine Zeit für so was. Es ist ein Phänomen. Ich diskutierte oft mit einem meiner Kollegen, Leslie Fiedler, ein guter Freund und großer Kritiker. Er behauptet, daß der amerikanische Roman schlechthin Margaret Mitchells Vom Winde verweht sei. Warum? Weil mehr Leute dieses Buch gelesen haben als irgendein anderes, damit habe es auch mehr Leute erreicht. Fiedler behauptet, daß Literatur sich auf ein Niveau hinunterbegeben soll, auf der sie zur Popkultur wird. Ich behaupte, daß der Roman die Kultur heben sollte. Das sind die zwei Positionen. Mir wurde vorgeworfen, ich sei elitär, aber das ist meine Position. Harry Potter ist ein Buch, das wieder verschwinden wird. Ein guter Freund von mir, Ron Sukenick, beschreibt zwei Arten von Büchern: einmal die horizontalen und dann die vertikalen Bücher. Ein horizontales Buch: Vielleicht erinnern sie sich an den vor ein paar Jahren erschienenen Roman Love Story von Eric Segal. Jeder kaufte ihn. Auch ein Film wurde daraus gemacht, es war ein guter Film, sogar ich heulte im Kino. Doch dann, sechs Monate später, kaufte niemand mehr das Buch und es verschwand. Es gehört zu der Art von Büchern, von denen viele Exemplare verkauft werden, die einen Autor reich machen und dann verschwinden. Ein vertikales Buch hingegen ist wie jenes, das 1971 als Double Or Nothing von einem gewissen Federman veröffentlicht wurde und das 30 Jahre später immer noch Leute irritiert und sich weigert, zu verschwinden. Es wird ins Deutsche übersetzt, und die Deutschen machen einen Bestseller daraus. Ich habe dieses Buch hier besser verkauft: 5000 Exemplare waren es in Amerika, in diesem Land hier verkaufte ich 30000 von diesem „unlesbaren Buch". Das ist es, was ich zu erklären versuche: Es gibt zwei Ebenen, sich mit Büchern zu beschäftigen, die eine ist das Geschäft, die andere ist etwas anderes.

Später saß ich mit Raymond Federman noch in einem Café am Savignyplatz. Befragt nach seiner Beziehung zu Deutschland, sagte er:

Ich war eineinhalb Jahre in Berlin als DAAD-Stipendiat, 1988-90. Es gibt so viele meiner Bücher hier, 13, 14, drei davon gibt es nicht einmal in Amerika. Es gibt über ein Dutzend Hörspiele von mir hier, aus allen Romanen wurden Hörspiele gemacht, es gibt CDs. Als wir eingeladen wurden, hierher zu kommen, sprachen meine Frau und ich darüber, ob wir wirklich in Berlin leben wollten. Mein Argument war, laß uns hingehen, ich werde dort als Autor und als Jude wahrgenommen werden. Und ich sollte Ihnen auch sagen, daß ich niemals einen Moment des Antisemitismus in Deutschland erlebt habe. Ich bin nicht hierher gekommen, um die Deutschen anzuklagen oder sie um Mitleid zu bitten, ich kam hierher, um einen Dialog zu führen. Dieser Dialog kommt meist mit jüngeren Leuten zustande, ich stellte dabei fest, daß ich sehr gute Freunde hier habe sowie Leute, die mein Werk schätzen.

Sie haben in unserer Unterhaltung angedeutet, daß Ihr Werk hier in Deutschland wesentlich mehr geschätzt wird als in den USA. Was, glauben sie, ist der Grund dafür?

Verschiedenes. Einmal gibt es für experimentelle Literatur in Europa eine Tradition. Mein Werk ist in seltsame Sprachen übersetzt worden: Polnisch, Rumänisch, Niederländisch, Ungarisch, Griechisch. In Osteuropa gibt es so viel Experimentelles und eine Avantgarde. Dann hat es, denke ich, mit der Art des Lachens zu tun, das in meinem Werk umgeht. Vor einigen Jahren war ich der Hauptredner bei einer Konferenz über jüdische Identität hier in Berlin. Es gab eine große Diskussion, und ich sagte, daß es der große Fehler von Hitler war, die Juden loszuwerden, denn mit den Juden verschwand auch ihr Lachen und seither wissen die Deutschen nicht mehr, wie sie lachen sollen. Wenn ich vor deutschem Publikum lese, bemerke ich, daß ich es mit diesem seltsamen, traurigen Humor auftauen kann. Ich denke, sie merken, daß hier jemand durch seine bloße Anwesenheit Leben und Versöhnung für möglich hält. Ich hoffe, sie mögen Federman auch, weil seine Bücher gut sind. In Amerika wird jeder Roman von einem Dutzend Verlegern abgewiesen, eventuell finde ich einen kleinen Verlag, der meine Sachen veröffentlicht. Warum meine Bücher hier in Deutschland so verbreitet sind? Ich denke, es ist der einzige Ort, wo ich richtig gelesen werde.

Ich schreibe nicht über den Holocaust, um das mal klarzustellen. Ich schreibe über den Post-Holocaust, darüber, was es heißt, mit dieser Sache in sich zu leben. Als ich dieses Gedicht schrieb, zeigte ich es meinem guten Freund und literarischen Verwalter, Larry McCaffrey, und er sagte, es wäre das Profundeste, was ich je geschrieben hätte:

ABSENCE

X-X-X-X

Ich bin 72, und ich bin noch dabei, das mit mir rumzutragen und zu überleben.

Brian D. Crawford

(Aus dem Amerikanischen von Carola Köhler)

Spieltexte. Playtexts (a. d. Amer. v. Peter Torberg) Text und Porträt 2, Literarisches Colloquium, Berlin 1990. 20 Mark

Alles oder Nichts (a. d. Amer. v. Peter Torberg) Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1986. 54 Mark

Take it or Leave it
(a. d. Amer. v. Peter Torberg) Rogner
& Bernhard, Frankfurt am Main 1998. 29 Mark

Loose Shoes. A life story of sorts. Weidler Buchverlag, Berlin 2001. 29,80 Mark

http://wings.buffalo.edu/epc/authors/federman/ und http://www.federman.com

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