Ausgabe 06 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Naturschöne Stadtbrachen

Sehnsucht nach der Wildnis

„Immer tiefer stießen wir in die Wildnis vor. Mit dem Buschmesser bahnten wir uns den Weg. Wir achteten auf giftige Schlangen, das Heer von Insekten und Spinnen. Wahrlich eine grüne Hölle." Ein Auszug aus einem Geographieschulbuch von 1974. Gleich daneben im Bücherregal lockt der Titel Wunderwelt der Natur direkt in den Garten Eden.

Der Begriff von Wildnis und Natur oszilliert zwischen Dämonisierung und Heilsversprechen. Das Auf und Ab auf der kulturgeschichtlichen Beliebtheitsskala ist beispiellos. Wie man draufschaut, ist sie mal reine Schönheit, mal Menschenfeind. So philosophierte Theodor W. Adorno: „Wo Natur real nicht beherrscht war, schreckte das Bild ihres Unbeherrschtseins." Die technisierte und kapitalistische Welt erst ermögliche einen idyllischen Naturbegriff, als Sehnsucht nach dem Ungebändigten und Herrschaftsfreien.

Sehnsucht nach dem Ungebändigten lenkt nun die Begehrlichkeiten der ersten Großstadtpioniere auf die Berliner Stadtbrachen, die vergessenen, verwilderten Winkel etwa auf ehemaligen Industrie- oder Bahngeländen. Der BUND will mit der Kampagne „Wildnis in Berlin" die Verwilderung hoffähig machen und unter Schutz stellen. Als kulturelle Bereicherung für die Städter, deren Erholungsparks noch geplante Kulturlandschaften sind und als „Arche Noah"-Projekt für bedrohte Natur. Denn abgesehen vom Roten-Rathaus-Turm, wo ein Wanderfalke brütet und nach kranken Tauben späht, sind die Stadtbrachen rar gewordene Reservate für seltene Tiere und Pflanzen, manche von ihnen auf der Liste der aussterbenden Arten.

Oft sind die „verwunschenen Gärten" nur zu erreichen, wenn man über einen Zaun klettert. Das Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs etwa ist durch diverse Gitter und Verbotsschilder von der Stadt abgeschirmt. Hat man die überwunden, steht man in einer fremdartigen Welt, die an eine Dünenlandschaft erinnert ­ tatsächlich gedeiht hier auf kargem Boden eine ähnliche Vegetation. Auf 12 Hektar Fläche längs der Schienen begegnet man keiner Menschenseele. Das Wort „Wildnis" kommt angesichts der Silbergräschen und Bergsandglöckchen vielleicht ein bißchen schwülstig daher. Aber immerhin ein Ort ­ mitten in der Stadt ­ an dem nicht gestaltet und nicht ordnend eingegriffen wurde. Man mag sich unwillkürlich auf ein altes Schienenteil setzen, in sich gehen und so ein paar faule Eidechsen auf einem Stein in der Sonne anglotzen ­ mit derselben Ehrfurcht wie den röhrenden Hirsch im Morgengrauen.

Nun will der BUND die verbotenen Gärten ausfindig machen, ein Kataster ihrer landschaftlichen und ökologischen Qualitäten anlegen, prüfen, wie erhaltenswert sie sind und nach Möglichkeit als „Wildnis" ausweisen. Vielleicht mit einem Schild: „geschützte Wildnis". Denn viele der heimlichen Naturparks, sind einer historischen Sondersituation zu verdanken: Die Bahngelände Westberlins waren nach der Teilung in Besitz der DDR-Reichsbahn übergegangen. Weil die Deutsche Bundesbahn kein Nutzungsrecht hatte, blieben riesige Areale sich selbst überlassen. In absehbarer Zeit würden die meisten Flächen „entwickelt", also bebaut werden. Auch am Nordbahnhof gibt es schon einen Bebauungsplan. Die Bahn-Immobiliengesellschaft plant hier Park- und Sportanlagen, außerdem die üblichen Wohn- und Gewerbebauten. Einen Teil des Geländes wird die Bahn selbst nutzen.

Vorbild für das „Wildnis in Berlin"-Projekt könnte das „Südgelände" sein, das ehemalige Bahnausbesserungswerk am S-Bahnhof Priesterweg in Schöneberg. Im Rahmen der EXPO 2000 „behutsam erschlossen", ist die ehemalige Bahnbrache nun Naturschutzgebiet. Keine Zäune mehr, keine bedrohlichen Planungen ­ ein Bauantrag für einen Güterbahnhof wurde abgewehrt. Gleich im S-Bahnhof lotst ein Wegweiser zum „Naturpark", dort angelangt wird man von riesigen Schildern empfangen: „Keine Fahrräder!", „Keine Hunde!". Zwei Metallstege führen über die Gras- und Schienenlandschaft, so daß der Gast sich ohne Bodenkontakt über Flora und Fauna hinwegbewegen kann. Auf dem Steg hockend kann man die seltene Plattbauchspinne beobachten, die sich durch die Halme hangelt, wie auf Grzimeks Tierexpedition. Daß die Stege nicht verlassen werden dürfen, versteht sich.

Das Schauspiel „Wildnis überwuchert Technik", kann von hier aus betrachtet werden: zum Beispiel eine Gestrüpp-überrankte rostige Lok, die durch behutsames Unkrautjäten vorm vollständigen Zuwachsen bewahrt wird. Als Pendant zum Berghüttenkitsch haben die Wegweiser hier statt der „knorrigen Wurzel" die Gestalt extraverrosteter Metallpfeile. Und das Hinweisschild, daß Graffiti nur auf dafür vorgesehenen Flächen erlaubt sind, präsentiert sich auf einer besprayten Eisenplatte.

Hat die Lust am Verwilderten als Antithese zu Zivilisation und Großstadt eine gefährliche Nähe zur Lust am röhrenden Hirsch, den man im Morgengrauen auf einsamer Lichtung aufgestöbert hat, dann ist die Lust am „Naturpark Stadtwildnis" etwa die am röhrenden Hirsch in Öl. Aber die Nachtigall und die Plattbauchspinne können hier, geschützt vor der feindlichen Menschenwelt, ihre Nachkommenschaft sichern, und das ist gut.

Tina Veihelmann

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