Ausgabe 06 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Aus der Zeit

Der Berliner Schriftsteller Klaus Schlesinger ist tot. Ein Gespräch

Nach einem Tag und einer Nacht in der Leipziger ist meine Hektik gewichen. Beim Spaziergang mit Hussel durch die Kollwitzstraße spürbare Ruhe im Körper. An der schäbigen Hinterfront des alten jüdischen Friedhofs in der Schönhauser empfand ich den farbigen Westen, seine überall präsente Reklame, die mannigfaltige Architektur plötzlich als schrill, als komplexen Angriff auf meine Sinne. Und das Grau der Fassaden hier, vor einem Jahr noch als einförmig und bedrückend wahrgenommen, ist die pure Erholung. Seltsame Umkehrung ...

Klaus Schlesinger, 1980

Ulrike Steglich: Wenn ich an Schlesinger denke, dann sehe ich einen nicht sehr großen Mann mit sehr freundlichen Augen und weißen Haaren, der immer wenig Aufhebens von sich selbst machte und der ungemein zurückhaltend war. Der Schwierigkeiten hatte, einfach so drauflos zu plaudern. Man hat gemerkt, daß er sich lieber schreibend formulierte.

Er war für mich jemand, zu dem ich ungeheures Vertrauen hatte.

Uwe Rada: Er war nicht talkshowkompatibel. Er war in einem positiven Sinn aus der Zeit, altmodisch. Weil er Dinge verkörperte, die nach wie vor nicht unwichtig geworden sind. Die Frage, wie man lebt und welche Bedeutung Zeit für einen hat, in einer immer ruheloseren, geschichtsloseren Welt.

Ulrike Steglich: Schlesinger strahlte so eine Bedächtigkeit aus, Ruhe als Lebenshaltung. Er ging sehr gründlich mit den Dingen um. Es war bemerkenswert, daß seine Aufsatzsammlung Von der Schwierigkeit, Westler zu werden erst 1997 rauskam.

Uwe Rada: Seine Bücher sind immer zur falschen Zeit erschienen.

Ulrike Steglich: Aber das ist ja das Schöne! Wenn man 1997 über 1991/92 liest – wie bei dem Text Das Gerücht –, hat man Abstand, und gleichzeitig hat es diese Zeit wieder so lebendig ins Gedächtnis geholt. Schlesinger beschreibt dort, wie ihn nach der Wende eine Zeitlang ein Stasigerücht verfolgte. Er spricht also von Themen, über die seit Anfang der Neunziger unheimlich viel geredet worden war. Aber das, was Schlesinger beschreibt, hatte so niemand beschrieben: Wie sich so ein IM-Verdacht anfühlt ...

Uwe Rada: Die Bücher hätten eigentlich immer erscheinen können, weil sie zeitlos sind. Als 1990 Fliegender Wechsel über seine Zeit in Westberlin erschien, ist es von diesem ganzen Wendetaumel weggespült worden. Dennoch stehen darin Dinge, die in den Wendediskussionen gar nicht vorkamen. Für mich war eine der Schlüsselszenen die, wie er am 4. November auf dem Alexanderplatz stand und das für ihn eine Inszenierung eines Bürgerprotestes war, wo er dachte, da kommt er seltsamerweise gar nicht drin vor. Er dachte, er müßte jetzt aufs Podium gehen, biegt dann aber doch ab. Das war eine sehr sympathische Haltung, sich nicht vertreten lassen zu wollen von anderen und gleichzeitig nicht andere vertreten zu wollen.

Ulrike Steglich: Schlesingers Büchern bin ich ziemlich früh begegnet, so Ende der Siebziger. Sie standen im Bücherschrank meines großen Bruders. Der war mit einer Buchhändlerin befreundet. Gelesen habe ich zuerst Alte Filme. Es erzählt auf eine stille Art vom Alltag, von einem, der plötzlich daraus ausbricht – und wieder zurückkehrt. Er beschreibt eigentlich immer die Ausnahmezustände inmitten eines Alltags.

Uwe Rada: Ich habe mir nach der Wende die alten Bücher von Schlesinger besorgt. Aber ich bin meist nicht ganz durchgekommen. Das ging mir mit vielen Büchern so, die ihr in den Siebzigern gelesen habt und die ich dann aus Interesse an dieser Zeit nachlesen wollte. Dieses nachholende Lesen ist mir meist mißlungen.

Ulrike Steglich: Vielleicht braucht man wirklich das verbindende Element, auch in dieser Welt gelebt zu haben. Bei Plenzdorf ist das auch so. Ich habe die Legende von Paul und Paula so oft gesehen, aber heute faszinieren mich dabei am meisten die grauen Fassaden, dieses völlig andere Stadtbild, mit dem ich ja auch gelebt habe.

Uwe Rada: Ich habe Schlesinger im Westen kennengelernt. Matulla und Busch war das erste Buch, das ich von ihm gelesen habe. Eines, das man unglaublich gern verschenkt hat. Es ist schon witzig, daß ein Ostler in den Westen geht, in einem besetzten Haus wohnt und zum literarischen Chronisten der Bewegung wird. Sein Blick auf das, was er beschreibt, hat was Eigenes, Faszinierendes. Die grauen Fassaden – das ist auch die Farblichkeit seiner Bücher. Es ist nicht wirklich grau, aber auch nicht bunt wie heute, das sind ganz andere Schattierungen und Nuancen. Die muß man kennen, wenn man sie erkennen will, die muß man sehen wollen. Aber dann sieht man sehr viel mehr Schattierungen in diesem Grau als in dieser völlig ausgeleuchteten Welt von heute, wo es keine wirklichen Überraschungen mehr gibt.

Ulrike Steglich: Schlesinger ist dabei überhaupt kein Gefühligkeitsschriftsteller gewesen. Er beschreibt eigentlich ziemlich erschreckende Dinge, die kann man nur schreiben, wenn man nicht wegguckt, auch bei sich selbst nicht.

Uwe Rada: Ich habe übrigens mit Klaus Schlesinger meine ersten Einsamkeiten im Osten erlebt. Ich bin 1990 in den Osten gezogen, in ein von Westlern besetztes Haus in Friedrichshain. Aber die große Mehrheit der Westbesetzer hatte an dem Ort und an den Menschen dort kein Interesse. Damals entdeckte ich den Fliegenden Wechsel. Ich konnte nicht mehr aufhören zu lesen. Es war eine wichtige Erfahrung, weil er mir auch den Westen erklären konnte. Ich habe dann viele Leute mit dieser Euphorie, diesem Leseerlebnis konfrontiert. Aber aus dem Westen kannte ich niemanden, der mit diesem Buch etwas anfangen konnte.

Ulrike Steglich: Das liegt vielleicht an dem anderen Blick. Die meisten hatten ja nicht diese Erfahrungen des Wechsels zwischen den Welten ­ wie Schlesinger.

Uwe Rada: Ja, er hatte das schon alles hinter sich, und es stimmte so brutal mit dem überein, was man selbst plötzlich feststellte. Es nahm mir auch die Illusion, die ich nach dem Fall der Mauer hatte. Plötzlich war man wieder auf die unterschiedlichen Sozialisationen zurückgeworfen.

Eine andere Episode, viele Jahre später. Ins Café Clara hatte Adolf Endler die Zeitschrift „Sklaven" eingeladen. Auf dem Podium bemühte man sich, die „Sklaven" als Fortsetzung des Mythos Prenzlauer Berg darzustellen. Dann stand im Publikum Schlesinger auf und sagte: „Wir müssen über ganz andere Dinge reden, über Ost und West." Aber das wollte keiner mehr hören. Schlesinger war früher als die anderen mit dem Thema beschäftigt und er war es auch später als die anderen. Und prompt war er wieder aus der Geschichte, aus der Zeit heraus.

Ulrike Steglich: Er hat das getan, was er und wann er es für richtig hielt. Ich weiß nicht, ob er einsam war, aber ich vermute, daß es zeitweise schon so war. Er hat einmal eine Situation beschrieben: Er fuhr mit der U-Bahn von Westen nach Westen durch den Osten, und im Ostteil, an einer bestimmten Stelle, mußte er daran denken, daß über ihm gerade seine Familie beim Abendbrot saß. Das war etwas Bitteres, und trotzdem hat er sich so entschieden.

Uwe Rada: Kann man so ein Leben heute noch aushalten?

Ulrike Steglich: Es gibt diese Passage im Fliegenden Wechsel, wo er beschreibt, wie irgendwann Mitte der Achtziger aus dem ehemaligen „wilden Haufen", den „Anarchisten", plötzlich Sakkoträger geworden sind, die nicht nur die Kleidung und die Getränkesorte gewechselt haben, sondern auch die Themen und die Haltung. Genau mit diesen Leuten haben wir es heute mehr zu tun denn je.

Ich bin nicht sicher, ob solche Lebenshaltungen wie die Schlesingers wirklich seltener werden. Man hat oft das Gefühl, ja. Was mich in den letzten Jahren zunehmend bedrückt, ist das Gefühl, ohnmächtig zuzusehen, wie einer nach dem anderen von diesen Leuten geht. Als wären sie von irgendwas aufgefressen worden.

Uwe Rada: Die einen sind gestorben, und die anderen sind gegangen, indem sie die Sakkos angezogen haben. Wenn man aber Lebenshaltungen nicht einfach abwerfen kann – wie überlebt man, ohne aufgefressen zu werden?

Ulrike Steglich: Schlesinger machte 1998 eine Lesung aus Trug. Es war eine wunderbare Lesung aus einem wunderbaren Buch. Danach war er mit Kuttner im Gespräch vor dem Publikum. Aber das Publikum fragte immer nur nach dem Paß, den Schlesinger damals als Wanderer zwischen den Welten hatte. Es war so traurig, es war eine großartige Lesung gewesen, und das Publikum fragte immer nur nach diesem dämlichen Paß. Ich habe mich da auch gefragt, wie er das eigentlich aushält, weil das auch eine Form von Einsamkeit ist.

Uwe Rada: Aber dieses Buch macht auch einsam. Die Hauptfigur Strehlow ist ein einsamer Mensch, ein Immobilienmakler im Westen, der eigentlich aus dem Osten kommt. Er denkt – auf einer Zeitreise mit seinem alter ego – immer mehr darüber nach, warum er damals gegangen ist und was er aufgegeben hat, auch eine Liebe. Auf einmal tut sich eine Chance auf, er kommt in die alte Wohnung, trifft die alte Liebe wieder. Und dann klaut ihm das alter ego den Paß, und er muß bleiben. Da wird's mir gruslig. Da spüre ich eine Falle, eine Ausweglosigkeit.

Ulrike Steglich: Ich fand es gar nicht gruslig, sondern unvermeidlich. Jemand, der so vieles weggeschoben und vergessen hat ­ ich fand diese Verdrängungsleistung so unfaßbar. Der ist doch eigentlich erst mal zu sich zurückgekehrt. In der Rykestraße zu stehen und sein Paß ist geklaut: Da muß er wieder in den Spiegel gucken. Er „kann nicht mehr zurück", aber er ist doch zurück. Der Westen war ja erst die zweite Station.

Uwe Rada: DDR und BRD, hat er mal gesagt, seien wie Pest und Cholera...

Ulrike Steglich: Der Vergleich zwischen Pest und Cholera war wichtig. Schlesinger hat ja nie die durchaus auch im Osten vorhandene Larmoyanz geteilt. Er konnte Dinge genau benennen und traurig oder sarkastisch sein, ohne larmoyant zu werden. Und so, wie er sie konstatiert hat, lag darin mindestens eine Wahrheit, nämlich seine. Die war plausibel, und die kann ich in vielem teilen, wenn ich auch nicht alles so empfinden kann, weil ich zu einer anderen Generation gehöre. Aber ich konnte trotzdem verstehen, warum er das so fühlt.

Ulrike Steglich, geboren 1967 in Ostberlin, freie Journalistin. Uwe Rada, geboren 1963, lebt seit 1983 in Westberlin, seit 1990 im Ostteil, taz-Redakteur.

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