Ausgabe 05 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Krasnojarsk im Mai

Sibirische Frühlingsimpressionen

Wieder zu spät gekommen. Um 10 sollte sich der Demonstrationszug zum 1.Mai an der Krasnojarsker Philharmonie formieren, jetzt ist es 10 Uhr 15 und durch das Schneetreiben sind 500 m weiter auf dem Prospekt des Friedens noch die Fahnen zu sehen. Dabei hätte ich es trotz der barbarischen Uhrzeit diesmal sogar rechtzeitig geschafft, wäre der Bus nicht liegen geblieben.

Letztes Jahr waren es mehr. Damals fiel zwar auch Schnee, aber es war wärmer, die Sonne schien sogar. Die Liberalen stellen heuer keinen Block, auch die regierungsnahe Partei „Edinstvo" ist nicht mehr vertreten. Außerdem vermisse ich die Che Guevarianer, die auf ihrem Plakat Jim Morrison als Kommunisten, Bill Clinton als Mörder deklariert hatten. Dafür macht sich eine Delegation des Verbandes der Ringer im griechisch-römischen Stil des Krasnojarsker Gebiets mit „Es lebe die Körperkultur!" lautstark bemerkbar. Die meisten, größten und schönsten Flaggen hat die Kommunistische Partei (auch wenn das Rot langsam verblasst), außerdem eine eigene Blaskapelle und einen Agitator mit Megaphon, der seine Getreuen zu immer neuen „Hurra! Hurra! Hurra!"-Rufen antreibt.

Auf der Abschlusskundgebung am Lenin-Denkmal sind als Redner die Genossen unter sich. Gouverneur Lebed' tritt dieses Jahr nicht auf, vielleicht ist's auch ihm zu kalt. Nichts Neues ist zu vernehmen, die vertraute Rhetorik wird abgespult. Eine Gewerkschafterin schildert die miserable Lage eines großen Teils der Bevölkerung. Präsident Putin habe innerhalb eines Jahres schon bewiesen, dass er dagegen nichts machen könne und/oder wolle. Man ist gegen die Oligarchen und die gegen das Volk gerichteten Wirtschaftsreformen, für angemessene Löhne und Preise und die Verstaatlichung wichtiger Industriezweige. Not täten organisierte Massenproteste und der Kampf für eine würdige Existenz. Von Kampfesstimmung ist indes unter den zumeist betagten Demonstrierenden wenig zu spüren. Den meisten Applaus bekommt denn auch ein ergrauter Schauspieler des örtlichen Theaters, der sich nebenbei politisch betätigt, und von den Vorzügen des sibirischen Charakters, der Größe des russischen Volkes und der slavischen Seele schwadroniert, die ihn trotz allem optimistisch in die Zukunft blicken ließe.

Für Leute, die den Frühling seiner brutalen Aufdringlichkeit wegen hassen, ist Sibirien für die entsprechenden Monate eine geeignete Gegend. Anfang Mai blüht noch nichts, keine lärmenden Vögel sind zu vernehmen, die Sonne scheint mal ein paar Tage, aber dann wird's bald wieder kälter. Und plötzlich ist es irgendwann schon Sommer, und man hat den lästigen Frühling hinter sich, ohne ihn bemerkt zu haben.

Es hat sich einiges verändert in der zentralsibirischen Millionenstadt Krasnojarsk im Verlauf eines Jahres. Zusätzlich zu den neun bisher existierenden Sorten des Bieres „Baltika" gibt's jetzt noch die „0", das erste russische alkoholfreie Bier. Die ausländischen Biere Tuborg und Efes tauchen immer öfter in Bars auf. Überall werden Cocktails in Dosen verkauft, Vodka-Grapefruit, -Zitrone, -Birne, -Honigmelone, -Ananas, die kaum nach Vodka, aber stark nach Chemie schmecken – wenn man sie alle durchprobiert hat, kehrt man besser wieder zu Vodka pur zurück. Meine Lieblingskneipe, ein wie eine Hafenspelunke eingerichtetes Kellerlokal, das erst vor einem halben Jahr behutsam renoviert und von „Leuchtturm" in „Anker" umbenannt worden war, ist geschlossen; Eingeweihte berichten von einem Umbau in ein teures Nachtlokal mit Striptease-Tanz. Der Kurs des Rubl' hat sich kaum geändert, aber die Preise haben angezogen, eine Busfahrt kostet jetzt einen Rubl' (8 Pfennig) mehr, und die Mieten sind um 30-50 % gestiegen, auf umgerechnet 120 bis 150 DM für eine Ein-Raum-Wohnung.

Trotz aller unleugbaren Entwicklung ist der Westen zum Glück noch weit ­ sonst lohnte sich die weite und teure Reise auch nicht. Auf einer Feier wollte jemand von mir wissen, in wievielen Jahren meiner Einschätzung nach Russland das Lebensniveau Deutschlands erreichen könne. Als ich höþich antwortete: vielleicht in 20, entgegenete er, ihm scheine, eher in 30. Beruhigend.

Thomas Keith

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