Ausgabe 05 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Musik für die Massen

Überraschendes

Manchmal kommen Überraschungen per Post. Zum Beispiel, wenn man ein Plattenlabel hat. Dann landen unaufgefordert Demos kuriosester Art im Briefkasten. Nur, was macht man mit den ganzen Prunkstücken, wenn Zeit und Kapazitäten fehlen?

Bei Fatcat, einem kleinen (aber feinen) Londoner Label ist man dieses Problem recht pragmatisch angegangen und hat erst einmal eine Compilation herausgebracht. Das Cover von No Watches. No Maps. entspricht einer Briefsendung, die bei Fatcat einging ­ aus Schweden, mit verkrakelter Anschrift in gelbem Packpapier. Ein kleines Überraschungspaket. Abgesehen davon, dass man zuvor noch von keinem Projekt oder Künstler je gehört hat (wer kennt schon Bexar Bexar oder Joseph Nothing?), weisen alle Stücke eine durchgängig hohe Qualität in Sachen experimenteller, minimalistischer Elektronik auf. Wünschenswert und zu hoffen ist, dass der eine oder andere Act recht schnell einen Vertrag bekommt.

Ein ebenfalls mit minimalistischer Elektronik experimentierendes Projekt ist das Soloprojekt von Binder. Bisher musizierte Markus Binder im Alpen-Akkordeon-Projekt Attwenger. Vor ein paar Jahren kaufte sich Binder dann ein bisschen elektronisches Equipment und fing an, die neuen Möglichkeiten zu erforschen. Auf Photos 01 (Disko B) versammelt er Tonmaterial unterschiedlichster Herkunft und erzeugt ein dichtes Rhythmus-Soundgewebe. Fragmentierte Sprache, die wie bei der digitalen Telefonauskunft zu Sätzen montiert wird, wiegt sich in einer kontemplativen Wiederholungsschleife und wird inmitten elektronischer Sounds selbst zur Musik. Am eindringlichsten lässt sich dies wohl auf dem zweiten Teil der CD nachhören: Vor ein paar Jahren veröffentlichte Markus Binder nach einer Vietnamreise einen Sampler mit Aufnahmen von Bands, die er allesamt auf der Straße oder auf kleinen Konzerten aufgenommen hatte – Vietnam-Pop. Auch Fetzen aus Gesprächen mit diesen Musikern sind nun im Teil h.c.mc (Ho-Chi-Minh-City) zu einem tanzbaren Klangteppich verwoben. Das erste Soloprojekt von Binder erhält so den Charakter eines Fotoalbums – Schnappschüsse, Erinnerungsbilder, Momentaufnahmen, die neu sortiert und zusammengefügt werden.

Das Neu-Zusammenfügen gehört auch zu einem der Grundelemente des Berliner Projekts Rotophormen. (Charhizma). Während Andrea Neumann ihr Innenklavier bearbeitet, spielt Annette Krebs eine leicht modifizierte Gitarre, verstärkt nur durch ein Mischpult. Obwohl die Stücke teilweise eine Länge von zehn Minuten haben, ist die Suche nach einer Dramaturgie aussichtslos. Vielmehr geht es um die Erprobung einzelner Sounds. Die Stücke sind unbetitelt und von eins bis neun durchnumeriert. Fast scheint es so, als ob die Geräusche, die die beiden Musikerinnen aus ihren Instrumenten hervorlocken, geradezu auf ihre Entdeckung gewartet haben. Die Klänge bewegen sich aus der Tiefe eines Bienenstocks bis an die Oberfläche einstürzender Neubauten. Für ein Klavier und eine Gitarre positiv überraschend.

Marcus Peter

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  Ausgabe 05 - 2001