Ausgabe 05 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Auf der Insel der Unordnung

Delia Müller erzählt von untergegangenen subkulturellen Milieus

Der Prenzlauer Berg ist in den letzten beiden Jahrzehnten des Sozialismus zu einem Ort geworden, der im Abstoßenden anziehend war. Ein verfallen-verfallendes negativschönes Territorium. Der Bauch des östlichen Berlin. In dem es jenseits der Kulturhaus-Kultur zu einer (im Großen und Ganzen) maßgabefreien Artifizierung des Untergrunds kam.

Wer mit dem System gebrochen hatte oder von ihm gebrochen war, flüchtete in die Freiräume der zusehends anwachsenden alternativen Soziostruktur am Prenzlauer Berg; im wahrsten Sinn des Wortes notgedrungen. Hier existierte ein bereits damals symbolischer Mikrokosmos, in dem die Utopien andere waren als im verordneten fahnenroten Weltbild. Wenn auch vielleicht nur als Placebo in einer Scheinexklave – Zentrum einer trotzigen Ohnmacht in Nachbarschaft zum schwachmächtigen Trotz der Staatsverweser.

Der Berg entwickelte sich zu einem Sammelbecken des Bruchs mit sozialistischer Bürgerlichkeit. Man verweigerte sich den Ausprägungen eines als fragwürdig bis sinnlos empfundenen, moralisch und ökonomisch abgewirtschafteten staatlichen Experiments. Unter der Decke des realen und gesellschaftlichen Smogs entstand eine nichtinstitutionelle Kultur, die in den ständigen Zu- und Abwanderungsbewegungen kreativ und recht agil blieb.

Die „Insel der Unordnung" Prenzlauer Berg war für nonkonforme Exis-tenzen das Quartier schlechthin einer eher entrückten Teilnahme am Staat. Ein in der Alltagskultur recht selbstbestimmbares Refugium für Halblegalitäten, Voll- und Teilalternativen, Lebensweisen bis hin zum Bohemismus. Wer in diesen mit dem Hauch des Dissidentischen durchzogenen Raum zog, hatte keine auf Linearität angelegte Biographie (mehr).

Kurz vor dem Systemwechsel im Künstler- und Aussteigerbezirk verschlägt es Delia Müller an den Ort der Versprengten, der der „Gleichtönig-keit" des tristen, ambitionsdämpfenden Wismar mit seiner Untergrundunordnung diametral entgegensteht. Sie floh den Konventionalitäten und den Ausbremsungen des eigenen Lebens, weil sie „Verstecke satt hatte".

Aufgrund einer eher kurzen Karriere als Kulturmanagerin im Norden des Landes gilt sie in Berlin zunächst bloß als „neues Material", als unbeschriebenes Blatt. Aber es gibt in der Fremde das Selbstbewusstsein der Selbstbestimmung. „Ich wohnte ab jetzt hier", heißt es trocken in ihrem Buch. Und sie gewöhnte sich an jenes Hier, „an die abgelebten Altbauwohnungen, an schmierige Fensterbretter, beklebte Toilettentüren mit Bandbildern schon flüchtig bekannter Gesichter, an Primasprit mit Mischobst, Qualm, Betten mit Slips und Tüchern schon längst gegangener Mädchen, Kaffeegrund in vergessenen Tassen, an zerbeulte Bandautos, zerkratzte Gitarren, Klosetts ohne Spülung mit kleinen Rädchen zum Drehen."

Als Sängerin gerät sie in den Einzugsbereich der Untergrundmusik. So weit der „Rock'n'Roll". Der entsprechende Personenkreis der Szene entpuppt sich als „rüde Männergemeinschaft mit den dazugehörigen Groupies". Im Zusammenhalt strukturiert durch eine „Hierarchie (...) auf Kinderbandenart", die insgesamt „Rollenspielchen" auferlegte. So weit die „Maskenzeit".

Delia Müllers Buch erzählt die Geschichte einer Frau, die kurzzeitig den Alltag des Prenzlauer Bergs erlebte, bevor er an die Sanierungskolonnen einer neuen Republik überging. Zwischen „Ostfrust" und Muttersorgen, Beobachtungen im kulturellen Sub-Raum und zu Wendezeiten der Verwässerung des Biotops Prenzlauer Berg.

Der Text sperrt sich etwas gegen Gattungszuschreibungen. Die Geschichte ihrer selbst, mit gelegentlichen Einsprengseln von Lyrik und Geschichten, ist am ehesten ein banales Berichtsheft. Diarisches Gehäcksel meets Detailwucherung als Spannungs-träger. Immer wieder finden sich unglückliche Satzkonstruktionen, merkwürdige Bezüge und Allegorien. Charaktere werden gelegentlich allein durch wild wuchernde Attributdopplungen porträtiert. Delia Müllers Text ist kaum je subtil. Wohlwollend kann man meinen, dass das Schlichte das Ungeschminkte ist, das Unaffektierte – als Kontrapunkt zur Maskerade von Selbstdarstellung und Literaturwillen. Den hat die Geschichtenerzählerin Müller augenscheinlich nicht gehabt. Was das Buch ganz sympathisch macht.

Como Soldrin


Delia Müller: Rock'n'Roll der Maskenzeit. Morphologia Verlag, Berlin 2000. Nummeriert und signiert. 14 DM

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  Ausgabe 05 - 2001