Ausgabe 05 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Die Nische als Zentrum

Der Berliner Comicverlag Reprodukt wird zehn

Maggie hat Gewichtsprobleme, durch ihren Job im Fastfood-Restaurant und aus enttäuschter Liebe. Den körperlichen Schwerpunkt von La Luba dagegen bilden ihre enormen Brüste, die nur von ihrem energischen Selbstbewusstsein überboten werden, mit dem sie vier Töchter und wechselnde Liebhaber bändigt. Im Latino- und White-Trash-Milieu von L. A. und in einem kleinen mexikanischen Dorf spielen die Geschichten der amerikanischen Independent-Comicstars Los Bros Hernandez.

Mit ihrer ausufernden Soap Opera Love & Rockets begann 1991 die Geschichte des Berliner Comicverlags Reprodukt, damals noch in Koproduktion mit der Schweizer Edition Moderne.

Das Hauptinteresse von Verlagsgründer Dirk Rehm galt zunächst der amerikanischen Independent-Comicszene, deren Protagonisten über die künstlerisch längst verdorrten Underground-Comix hinaus für das Medium zukunftsweisende Impulse setzten. Dazu gehören Daniel Clowes und Charles Burns mit surreal-alptraumhaften Interpretationen des amerikanischen Alltags, deren künstlerische Parallelen in den Werken von David Lynch oder Thomas Pynchon zu finden sind, sowie die Kanadierin Julie Doucet, die vor allem autobiographisch orientiert ist.

Von der amerikanischen Modewelle autobiographischer Comics inspiriert sind die Arbeiten der deutschen Zeichner Andreas Michalke, Minou Zaribaf und Markus Golschinski, die nach ersten Gehversuchen mit selbstverlegten Fanzines ihre Hefte bei Reprodukt verlegen konnten. Nachdem der zweite Berliner Comicverlag Jochen Enterprises sein Programm aufgrund miserabler Verkaufszahlen einstellen musste, ist Reprodukt nun zum alleinigen Heimathafen der Berliner Comickünstler geworden, von diversen Eigenverlagsinitiativen einmal abgesehen.

Die ästhetische und inhaltliche Bandbreite, die von Reprodukt abgedeckt wird, hat sich in den letzten Jahren stark vergrößert.

Inzwischen findet man hier auch die Funny-Stars Fil und OL. Atak und Anke Feuchtenberger, die demnächst erstmalig bei Reprodukt erscheint, machen dagegen Comickunst mit sehr großem K, was zuweilen auf Kosten der erzählerischen Relevanz geht, oft aber auch zu erstaunlichen Bildfindungen führt.

Zwischen allen Stühlen sitzt C.X. Huth mit seinem langerwarteten neuen Buch Das 23 fünf acht neun. Huth hat ein von graphischen Einfällen strotzendes Bilderbuch geschaffen, das besonders durch seine handgemachte Farbtrennung besticht, so dass man glaubt, originale Buntstiftzeichnungen zu sehen. Die Frage, ob das Buch nun eher für Kinder oder für Erwachsene gedacht ist, wird angesichts der unglaublich farbintensiven Bilder und ihrer anrührenden Figuren irrelevant.

Verlage jenseits des Mainstreams

Verlegerische Wagnisse sind bei Reprodukt der Regelfall, sichere „Verkaufsschlager" die absolute Ausnahme. Damit zählt dieser Verlag im deutschsprachigen Raum mit der Edition Moderne zu den ganz wenigen Verlagen, die überhaupt verlegerische Impulse mit anspruchsvollen, sich an ein erwachsenes Publikum richtenden Comics setzen, nachdem die Großverlage ihre Euphorie der achtziger Jahre für Erwachsenencomics in den Neunzigern fast gänzlich abgelegt hatten und sich wieder in den jugendkompatiblen Mainstream zurückzogen.

Umgekehrt begannen in Frankreich und Belgien, kleine Zeichnergruppen ihre eigenen Verlage mit kompromisslosem inhaltlichen Profil zu gründen und leiteten damit die dringend fällige Erneuerung des französischen Comicmarktes ein, dessen saurierhaft schwerfällige Marktführer sich auf endlose Historien- und Fantasyserien versteiften. Am erfolgreichsten erwies sich dabei die Pariser „Association", die im Unterschied zu den avantgardistisch und experimentell orientierten „Amok" und „Fréon" die lesbare, unterhaltsame Geschichte in den Vordergrund stellte. Ihre wichtigsten, in Frankreich bereits stilbildenden Vertreter sind bei Reprodukt verlegt: J. C. Menu, Killoffer, David B. und insbesondere Shootingstar Lewis Trondheim, dessen wortloses Buch Die Fliege sich inzwischen zum Bestseller des Verlages gemausert hat. Sein neues Buch. Das Land der drei Lächeln verspricht feinsten schwarzen Humor, der sich in die großen philosophischen und religiösen Fragen verbeißt.

Das Verlegertrio ­ zwei Frauen, ein Mann ­ von Reprodukt ist aktiv wie nie. Dabei agieren sie eher als Kulturschaffende denn als unternehmerisch orientierte Verleger, was sich nicht zuletzt darin äußert, dass sich die drei in zehn Jahren keinerlei Gehalt auszahlen konnten. Leider wird das Medium Comic in Deutschland bislang kaum als förderungswürdig angesehen. Anders ist die Situation in Frankreich. Die „Association" hätte ohne staatliche Unterstützung einen sehr viel schwereren Start gehabt; hinzu kommt, dass der Comic eine ungleich höhere kulturelle Anerkennung genießt und Comics ganz selbstverständlich im Literaturteil der großen Zeitungen ihren Platz haben.

Das Berliner Comicfestival im September in der Kulturbrauerei wird von Reprodukt mitorganisiert. Das Symposium zum Thema „Erzählen in Bildern ­ Comics als literarische Form" übernimmt die Neue Gesellschaft für Literatur, die mit u. a. Christian Gasser, Jens Balzer und Klaus Theweleit vielversprechende Referenten ankündigt. Hoffentlich ein Schritt voran für die Anerkennung und „Förderungswürdigkeit" moderner Bildgeschichten.

Kai Pfeiffer

www.reproduktcomics.de

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