Ausgabe 05 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Wir waren die ersten

Selda A.s erste Worte in deutsch waren:
„Maschine kaputt"

Selda A. wurde 1947 in Kirklareli in der Türkei geboren. Nachdem sie die Schule mit mittlerer Reife abgeschlossen hatte, fielen ihr die Anwerbungen für Gastarbeiter in Zeitungen auf. Sie entschied sich, nach Deutschland auszuwandern. Nur Seldas Vater war nicht einverstanden, dass die 18-jährige Tochter alleine nach Deutschland ausreist. So kam es, dass sich auch Mutter Seher und Schwester Hülya in Samsun an die Arbeitsvermittlungsstelle wandten und die drei Frauen einen Monat später im Zug von Istanbul nach München saßen. Von da aus ging es mit dem Flieger weiter nach Berlin Tempelhof, ohne den Vater Mehmet und den Bruder Serkan. In Berlin begann das Frauengespann, bei Osram zu arbeiten, und fand in einer Firmenwohnung ein neues Zuhause. Selda gefiel die lebhafte Stadt. Die ersten Worte, die sie sprechen konnte waren: „Maschine kaputt". Heute wohnt Selda, die sich nie verheiratet hat, im Wedding. Immer schon wollte sie viele Länder kennen lernen und reiste deshalb viel: in die USA, nach Kanada und in den Fernen Osten. Nach ihrer Pensionierung möchte sie noch Afrika und Australien bereisen. Sie hatte keine Schwierigkeiten, sich einzuleben. Nur traf sie immer wieder auf das Vorurteil, Türken seien nicht modern.

Es war die erste Generation türkischer Einwanderer, die ab 1964 mit dem Zug aus Istanbul kamen. Angeworben von der Berliner elektronischen und feinmechanischen Industrie, sollten sie Fernsehgeräte montieren, Telefone zusammenschrauben, im Akkord am Fließband arbeiten, um dem Arbeitskräftemangel in Westberlin nach dem Mauerbau entgegenzuwirken. Die Türkei entließ diese Leute in ein für sie unbekanntes Land.

Bis heute ist die Wanderbewegung aus der Türkei nicht abgerissen, verändert haben sich die Beweggründe. Nach dem Anwerbestopp von 1974 wurden vor allem Eltern und Kinder nachgeholt, Anfang der 80er bis Mitte der 90er emigrierten viele aus politischen Gründen. Türkische Communities entstanden in allen Innenstadtbezirken Westberlins. Die in Berlin-Kreuzberg, in der Gegend um das Kottbusser Tor, ist wahrscheinlich die bekannteste in Deutschland, wenn auch nicht die größte. Inzwischen ist die türkische Kultur in Berlin lange nicht mehr die der „Ersten". Ihre Kinder sind schon in Deutschland geboren, es gibt bereits eine dritte Generation. Entsprechend ist das Leben der Türken in Berlin längst nicht mehr das der Anfangstage. Das Bild des armen, aber freundlichen Ali mit schwarzen Augen und riesigem Schnauzbart ist dem des etablierten Kreuzberger Selbständigen gewichen, der sich jederzeit auf ein Netzwerk türkischer Ökonomie verlassen kann. Bücher wie „Kanak Sprak. 24 Misstöne vom Rande der Gesellschaft" von Feridun Zaimoglu beschreiben die Sprache einer türkischen Generation, die sich unterdessen zwischen „türkischer" und „deutscher" Kultur entwickelt hat, weder der einen, noch der anderen mehr angehört, stattdessen eher etwas drittes herausgebildet hat. Die Geschichte der „Ersten" ist zu einem eigenen Abschnitt der Berliner Geschichte geworden.

Biographische Selbstzeugnisse der ersten türkischen Einwanderer stehen im Mittelpunkt der Ausstellung: „Wir waren die ersten" oder „Türkieyeíden Berlin" im Kreuzbergmuseum. Ebenso wird ein Querschnitt durch einige Bereiche gezeigt, die das Leben in Kreuzberg heute ausmachen. Welche Kultur brachten die „Ersten" aus der Türkei mit, und wie hat sie sich verändert? Wie entstanden nach und nach türkische Institutionen von der Gewerkschaft bis zum Sportverein? Biographische Zeugnisse wurden eindrücklich dokumentiert durch Fotos und Interviewprotokolle. Das von Selda A. ist eines davon. Andere Leben sahen anders aus. Riza Pala, der 1968 nach Berlin kam, um bei BMW zu arbeiten schreibt: „Sehnsucht nach meiner Heimat und meinen Lieben haben mich daran gehindert glücklich zu sein." Nach 30 Jahren Aufenthalt ist er nicht sicher, integriert zu sein. Stolz ist er darauf, dass es seinem Sohn gelungen ist, erfolgreich zu sein.

Tina Veihelmann

Die Ausstellung des Kreuzberg-museums, Adalbertstraße 95a, in Zusammenarbeit mit dem Nachbarschafts- und Gemeinwesenverein Kotti e.V. und Migrantenorganisationen, ist noch bis 15.7. 2001 geöffnet

© scheinschlag 2001
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 05 - 2001