Ausgabe 05 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Lebenshilfe

Wenn es Arbeit auf Lose gäbe – wäre das dann ein Hauptgewinn oder eine Niete? Bis zur Klärung dieser Frage gilt die Parole: „Arbeitslos in Berlin – Mach mit!" 1000 Arbeitslose fühlen sich in Deutschland unwohl, hier wird es erst ab 5 Millionen gemütlich! Da hat es die Linke zunehmend schwerer mit ihrer „Mobilisierung". „Statt in den Zeiten der Krisis eine Verteilung der Produkte und allgemeine Belustigung zu verlangen, rennen sich die Arbeiter vor den Türen der Fabriken die Köpfe ein," schimpfte Paul Lafargue 1887. Verstärkt wurde solch postproletarisches „Fehlverhalten" noch 1995 – u.a. von einem ostdeutschen Fernsehsender, der mutlos-empört eine seit der Wende arbeitslose verzweifelte Dispatcherin aus Waren an der Müritz interviewte, die sich – umgeschult – hundert mal vergeblich um eine neue Stelle bewarb. Zwei Jah-re später entdeckte ich in Waren die Aushänge von gleich drei Langzeit-Arbeitsloseninitiativen: Sie warben für ihr „Sommerprogramm". Es begann täglich mit einem „Quasselfrühstück", darauf folgte entweder ein Vortrag mit Diskussion oder eine Exkursion: Waldwanderungen unter fachkundiger Führung eines Oberförsters oder Bootsfahrten mit anschließender Besichtigung. In Berlin kam es zur gleichen Zeit zu Arbeitslosen-Demonstrationen. Die Gewerkschaften forderten ununterbrochen mehr Arbeit – und schrumpften gleichzeitig sich selbst „gesund". Die ABM-Quoten fielen und stiegen. Privat wurden neue Billigjobs und Praktikumsplätze umsonst und drinnen aus dem Boden gestampft. Die ersten Praktikantinnen-Witze kamen auf. Dagegen entwarfen ein Korse und eine Romanistin aus Prenzlauer Berg ein „Manifest der glücklichen Arbeitslosen". Es wurde von der Hauptstadtpresse begeistert zitiert und nachgedruckt. Aus dem Haus der Demokratie schwärmte allwöchentlich eine „Erwerbsloseninitiative" aus. Ihre regelmäßigen „Expropriationen" glichen „Exkursionen ins Soziale". Auf einer von ihnen organisierten Diskussion mit Aktivisten der französischen Arbeitslosenbewegung war zu erfahren, dass diesen ihr „Verhältnis zur Arbeit" inzwischen ganz und gar unklar geworden war. Nichtsdestotrotz würden sie jedoch ihren Aktionismus noch steigern, um mehr Arbeiter und Arbeitslose „reinzuziehen".

Wir sind erneut in einer Zeit der „Projektemacher". Das kann so aufwendig werden wie in Eberswalde, wo schwedische „Consultants" eine Arbeitslosen-Gruppe zu Arbeitgebern schulen und eine andere zu Arbeitnehmern. Oder so grausam wie in Schöneweide, wo ein Unternehmer einer arbeitslosen Frau aus Polen einen Scheinehemann besorgte und sie sich dafür von ihrem langjährigen Ehemann in Krakau pro forma scheiden ließ: alles nur für eine unsichere Arbeitserlaubnis an einer kleinen deutschen Honig-Abfüllmaschine! Die linke Professorin Sybille Tönnies möchte am Liebsten alle jungen Arbeitslosen gleich in einem Öko-GULag mit menschlichem Antlitz „auffangen" – bei Quellwasser und Biobrot. Eindeutig scheidet man bereits jene Arbeitslosen im besten Alter – in Opfer und Täter, die sich ins Gunstgewerbe teilen: finster aussehende Schlepperbanden einerseits und überqualifizierte blonde Prostituierte ohne „vollständige Papiere" andererseits.

So viel ist daran richtig: Seit dem Zerfall der Sowjetunion (Globalisierung genannt) sind überall auf der Welt Millionen entsetzter Proletarier gezwungen, sich buchstäblich auf eigene Faust durchzuschlagen. Und mehr und mehr lassen sie sich dabei im Habit von schwarzen US-Ghettopop-Kreationen leiten. D. h. sie nähern sich als „Men in Sportswear" den „weißen Wohlstandsinseln". Es gibt kaum noch ein Handarbeiter-Verbrechen auf der Welt, bei dem die Täter nicht mindestens Turnschuhe tragen. Zwar werden die unselbständigsten „Men in Sportswear" laufend als Bewacher von Reichenghettos und Luxuseinrichtungen eingestellt, aber dieses Quasi-Abschöpfen der Verelendung – durch raschen „Umbau der Industrie- in eine Dienstleistungsgesellschaft" – ähnelt einem Hase-Igel-Rennen.

In Berlin-Kreuzberg, wo die Jugendarbeitslosigkeit bald satte albanische 60% erreicht, geht es längst nicht mehr um pro oder contra „Mulitikulturalität". Statt um „Integration" ringt man hier jetzt eher risikoabwägend um eine gewisse Euro-Lebenskunst. In der Zeitung für Russlanddeutsche wird ebenso ausführlich das Lottospiel wie der Rentenanspruch erklärt. Neben dem alten Einwanderer-Credo „If I can make it here I can make it everywhere" gibt es eine erneute Hinwendung zur Kollektivität. Seit der Auflösung großer Betriebsorganisationen scheint es dafür mit der Organisation von Massen vorbei zu sein. So ist z.B. die kleine Anarcho- „Callcenter-Initiative" in Friedrichshain als Organisation weitaus „effektiver" als alle diesbezüglichen Initiativen der neuen weltgrößten Dienstleistungs-Gesellschaft „ver.di". Während diese stolz verkündete, sie hätte beim Berliner Vorzeige-Start-Up-Unternehmen Pixelpark einen Betriebsrat durchgesetzt, vermeldete der Spiegel lapidar: Pixelpark sei so gut wie pleite. Anderswo schnappen sich IG Metall und ÖTV ihre potentiellen Mitglieder gegenseitig weg. Während Rechte und Neoliberale in dieser neuen Unübersichtlichkeit auf Rassen und (Konsum-)Massen abheben, versucht die Linke darin den Klassen-Begriff wieder ins Spiel zu bringen. Wobei einige sich damit zur Ironie aufschwingen und andere dagegen einen Humor entwickeln, der sich fallen läßt ­ bis auf das Schwarze unter dem Fingernagel. Das meint, ein Kleinmachen: wo der monarchische Standpunkt mit Zentralperspektive zugunsten eines „synarchischen Feldes" aufgegeben wird und wieder eher die induktiven Verfahren zum Zuge kommen. Dementsprechend wird es in Zukunft nur noch „low-intensity-conflicts" geben, wie der israelische Kriegsforscher Martin van Crefeld meint ­ diese jedoch bald an allen Ecken und Enden.

Helmut Höge

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