Ausgabe 04 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Autosuggestion oder Self-fulfilling prophecies

Ein Mann geht auf die Straße. An diesem Morgen fühlt er sich unerklärlich gut, hübsch, stark inspiriert und offen. Er zweifelt nicht daran, dass ihm gleich etwas Ungewöhnliches geschehen wird, eine Begegnung oder eine außerordentliche Situation. Jeder kennt einen solchen Zustand ­ das will ich zumindest hoffen. Eine Enttäuschung ist selten der Fall. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der Mann tatsächlich jemandem begegnen wird. Zum einen wegen seiner in dem Augenblick anziehenden Ausstrahlung, zum zweiten, weil er wiederum ungewöhnlich aufmerksam auf seine Umgebung ist. Es ist ein typischer Fall der self-fulfilling prophecy, der sich selbst verwirklichenden Prophezeiung, in der der innere Zustand auf das Umfeld einwirkt.

Gleichzeitig geht ein zweiter Mann raus mit der festen Überzeugung, dass ihm nur Schlechtes geschehen wird. Er fühlt sich hässlich, alt und doof, die Welt ist zum Kotzen und die Mitmenschen nervige Idioten. Für ihn ist die Chance einer glücklichen Unterbrechung des Alltags quasi null. Die vorbeilaufenden Passanten werden wegschauen und die Beobachtung seiner unmittelbaren Umgebung wird nur das bestätigen können, wovon er ohnehin überzeugt ist. Das ist auch self-fulfilling prophecy, wenn auch eine negative. Wenn ich sage: Nichts wird mir passieren, passiert mir halt nichts.Was sagt uns diese Geschichte?

Nun stellen wir uns vor, beide Typen treffen aufeinander und kennen sich. Ein beiläufiges Gespräch fängt an:

-Wie geht's dir?

- Wie kann es mir denn gehen, beschissen wie jeden Tag in dieser Scheißgesellschaft!

-Na ja, immerhin, schönes Wetter haben wir heute, nicht wahr?

-Du meinst, der Treibhauseffekt schreitet voran? Hab' ich auch bemerkt.

-Ich habe das Gefühl, mir wird etwas Außerordentliches passieren heute.

-Ach, du und deine romantischen Träumereien!

-Hm, Übrigens hab' ich gestern einen tollen Film gesehen.

-Du hast dir einen Schuss Kulturmüll in einem Multiplex-Konsumtempel gesetzt? Und ­ wie viel Arbeitszeit hat das Vergnügen gekostet? Usw.

Was sagt uns diese Geschichte?

1. Keiner von den beiden Typen ist näher an der Wirklichkeit als der andere. Was die beiden unterscheidet, sind geistige Zustände, welche keine
Fassbare Ursache haben, doch die unmittelbare Umgebung beeinflussen und dadurch verfestigt werden.

2. Wenn die Diskussion weiterläuft, ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Gutgelaunte vom Schlechtgelaunten angesteckt wird, größer als umgekehrt. Rationale Gründe lassen sich eher auf der Schlechte-Laune-Seite finden, angefangen mit der jüngsten BVG-Preiserhöhung bis hin zum heranrückenden Tod. Statistisch gesehen kommt eine negative self-fulfilling prophecy viel häufiger vor als eine positive.

3. Gerade deswegen wird der Gutgelaunte auf keinen Fall die Diskussion mit dem Anderen weiterführen wollen. Er weiß, wie selten und flüchtig sein Zustand ist und wird ihn sich auf keinen Fall von deprimierenden Tatsachen versauen lassen.

Nun stellen wir uns vor, zehn Millionen gehen auf die Straße mit der Gewissheit, etwas Außergewöhnliches ist dabei zu geschehen. Dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass daraus tatsächlich eine außerordentliche Situation entsteht. Ich weiß, Sie werden nun denken, dass ich die Spinnerei ein bisschen zu weit treibe. Doch wovon ich jetzt rede, ist keine Spekulation, sondern Erfahrung. Den Fall habe ich selber in Frankreich im Mai 68 erlebt. Daher weiß ich mit Sicherheit, dass 10 Millionen Menschen zumindest zeitweilig aus Wünschen Realität schaffen können, wie es damals hieß. Sogar der Berufspessimist Houellebecq, der ebenso wie ich den Mai 68 als Kind erlebte, beschreibt den durch den spontanen Generalstreik errungenen Stillstand als einen „Augenblick metaphysischer Ungewissheit". Gewiss ging es damals um etwas Konkreteres und Differenzierteres; bloß, was ich mit diesem Beispiel sagen will, ist: Auch was die soziale Wirklichkeit betrifft, gibt es einen Punkt, jenseits dessen die alltägliche Logik und viele von den als allgemein objektiv geltenden Zusammenhängen nicht mehr gültig sind. Um es mit Musil zu sagen: Meistens ist das, was wir Realität nennen, bloß Gewohnheit. Ich halte alle sozialen und politischen Theorien, die eine solche Tatsache ignorieren oder leugnen, selbst für deprimierende Prophezeiungen.

Vor einigen Jahren schrieb ein japano-amerikanischer Neohegelianer in rosarotem Anzug namens Francis Fukuyama einen Bestseller, in dem er das Ende der Geschichte verkündete. Nun meinte er, da Demokratie und Marktwirtschaft weltweit hegemonial herrschen, hat sich das tausendjährige Ringen um die bessere Welt erledigt. Ob Ihr damit zufrieden seid oder nicht, es gibt nichts Neues zu erwarten. Und doch, selbst Fukuyama erwähnt die Eventualität, dass Aufstände nach 68er-Muster in seiner geschichtslosen Welt doch stattfinden könnten, einfach aus Langeweile. Wie man weiß, war damals keine von den üblichen Erklärungen vorhanden, weder eine ökonomische noch eine politische Krise. Also gewöhnten sich die Chronisten an, Langeweile als eigentliche Ursache für die Unruhen zu sehen. Warum auch nicht? Langeweile ist Grund genug, um Bambule zu machen. Bloß, dazu hätten wir heute wenig Gelegenheit. Sowohl bei der Arbeit als auch in der Freizeit werden von uns stets aktive Teilnahme, Kreativität und Beweise einer positiven Einstellung verlangt. Der Spaßterrorismus hat uns unserer Langeweile beraubt. Nicht nur gegen die Depression, sondern auch und vorerst gegen diese manische Seite des Kapitalismus wird sich der Kampf richten müssen.

Ist der Mythos ein Mythos?

Autosuggestion mag ein Mittel für den individuellen Kampf sein, doch wenn es auf Antikapitalismus ankommt, also auf einen Konflikt, der die Teilnahme von breiten Mengen erfordert, ist auch eine kollektive Dimension vonnöten. Gibt es so etwas wie kollektive Autosuggestion? Ungefähr zur gleichen Zeit, als Coué seine Autosuggestionsmethode entwickelte, schrieb Ingenieur Georges Sorel „Über die Gewalt", ein Traktat zum Anarcho-Syndikalismus, das übrigens auch Mussolinis Bettlektüre wurde. Sorel selbst wurde später zum Verehrer sowohl Mussolinis als auch Le-nins. Doch damals ging es in seinem Buch noch um die von den Anarchisten verbreitete Vorstellung des revolutionären Generalstreiks. Interessant ist hier, dass der Generalstreik für Sorel weder ein praktisches Programm noch eine utopische Vision war, sondern das, was er einen sozialen Mythos nannte. „Das heißt", schrieb er, „eine Verbildlichung, die alle Gefühle instinktiv hervorzurufen vermag, welche den diversen Umständen des sozialistischen Krieges gegen die moderne Gesellschaft entsprechen". Utopisch ist für Sorel die „Fabrizierung von Zukunftshypothesen nach dem Muster historischer Erzählungen". Er schreibt: „Wissenschaftliche Vorhersehung ist unmöglich (...) und doch, um handeln zu können, müssen wir uns aus der Gegenwart herausziehen." Mythen seien „Mittel, um die Gegenwart zu beeinflussen", sie zielten auf eine „Reform des Willens", die Versöhnung von „Vernunft, Wahrnehmung und Erwartungen". Dabei spielte die künftige Machbarkeit keine Rolle.

In der Tat: Es ist eher selten passiert, dass Freiheitskämpfer letztendlich die Freiheit in der Form erreicht haben, die sie sich vorgestellt hatten. Und dennoch hätten sie ohne die ursprüngliche Vorstellung gar nicht gekämpft. Selbst wenn der Begriff Freiheit ein Mythos im Sinne Sorels war, war er kein Mythos in dem Sinne, wie das Wort üblich verwendet wird, eine Illusion ohne praktische Wirkung.

Es ist mir bewusst, dass ich da über antiquierte Vorstellungen spreche, die in der heutigen Zeit keinen Platz haben. Wir leben ja in der Postmodernität, dem Posthumanismus, der Postgeschichte oder irgendwas in der Art, Hauptsache post. Die Frage ist: Wie kommt man da raus?

Die Postmodernen meinen, sie hätten etwas Neues und Umwälzendes entdeckt, in dem sie Vorstellungen wie Emanzipation oder Geschichte als große Erzählungen entlarvt haben wollen. Es geht übrigens nicht ohne amüsante Paradoxe wie dieses: „Früher haben Menschen an den Fortschritt geglaubt, heute wissen wir, dass es keinen Fortschritt gibt. Das ist ein Fortschritt." Heute kann der letzte Depp mit Genugtuung behaupten: Ach, Klassenkampf, Revolution, Proletariat, das waren doch alles Mythen! Na und? Deswegen habt ihr euch immerhin 200 Jahre lang in die Hosen gemacht. Und was ist eure „unsichtbare Hand", was sind denn eure „ökonomische Gesetzlichkeiten", die „Steuerung der Evolution" und sämtliche digitale und genetische Zukunftsvisionen, wenn nicht Erzählungen und auch noch schlechte dazu?

Den Unterschied zwischen Vormoderne, Moderne und Postmoderne kann man wie folgt zusammenfassen:

Die Vormoderne wusste, dass sie glaubte. Die Moderne glaubte, dass sie wusste.

Und die Postmoderne glaubt, dass sie an nichts mehr glaubt. Gerade dieser Glaube muss jetzt zerstört werden. Nihilisten müssen deswegen kritisiert werden, nicht weil sie Nihilisten sind, sondern weil sie sich noch viel zu viel Hoffnungen machen. Vor mehr als einem halben Jahrhundert hatte schon Georges Bataille die passende Formel der Gegenwart erläutert: Die Abwesenheit des Mythos ist der Mythos von heute.

Guillaume Paoli

Auszug aus einem Vortrag, gehalten am 29.März in der Reihe „Kapitalismus und Depression" an der Volksbühne

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