Ausgabe 04 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Berlin 1901

19. April bis 16. Mai

In der Rostocker Straße im Bezirk Moabit befindet sich ein großer, freier Platz, der von einem hohen Bretterzaun umschlossen ist. Diesen Platz benutzt die Jugend zu ihren Spielen, und da der Eingang verschlossen ist, klettern die Jungen über den Zaun, während die kleineren durch einige Löcher, die sie gebuddelt haben, hindurchkriechen. In den letzten April Tagen geschah es wiederholt, dass Jungen ihren Hass gegen den Schulzwang dadurch Ausdruck gaben, dass sie durch Steinwürfe Fensterscheiben des benachbarten Schulgebäudes zertrümmerten. Am Nachmittag des 1. Mais, als mehrere hundert Kinder auf dem Platz versammelt sind, erscheint plötzlich ein Schutzmann an der Eingangstür. Nun beginnt ein allgemeines Wettklettern und Kriechen über und unter den Zaun. Etwa ein Dutzend der größeren Jungen werden ergriffen und zur Wache geführt. Die Übeltäter werden sich, so sie im strafmündigen Alter sind, für ihre Freveltaten zu verantworten haben.

Das Metropol-Theater eröffnet am selben Abend seine Sommer-Saison mit einem Spezialitäten-Programm. Unter der Menge der Akrobaten, Equilibristen und Jongleure zeichnet sich Le petit Arthur sowohl durch seine Gewandtheit als Parterre-Gymnastiker wie durch seine Sicherheit als Radfahrer aus, während die echten Japaner der Tocakitschi-Truppe in den ikarischen Spielen Hervorragendes leisten. Ebenso geschickt wie komisch sind die Jongleure Clever und Piccolo, ausgezeichnet auch das französische Vocal-Quartett Les 4 Toulousains, die über ebenso schöne wie künstlerisch geschulte Stimmen verfügen. Die 5 Sisters Warwick, geübte Kunstradfahrerinnen, sowie die Troubadours, englische Sängerinnen im Genre der Barritons, leisteten Vorzügliches, während La belle Woronskaja, eine romanische Tänzerin, mehr durch ihre Schönheit und reichen Kostüme, als durch eine besondere Kunstleistung gefiel. Den Schluss bildete die Pantomime „Die Sioux", die nach echt amerikanischem Geschmack gearbeitet, einem Affendarsteller, Charles Laury, Gelegenheit gab, seine eminente Begabung für die Wiedergabe der Eigenarten dieser Tiergattung zu zeigen.

Unter der Bezeichnung „Buntes Brettel (Künstler-Cabaret)", die vom Amtsgericht I behördlich concessioniert worden ist, wird Director Bausenwein in der nächsten Spielzeit sein literarische Variété im Haus der jetzigen Secessionsbühne eröffnen.

Über die Zunahme der Überweisung irrer Verbrecher klagt wieder einmal der Verwaltungsbericht über die Irrenanstalt zu Dalldorf. Im Anschluss an die Schilderung eines groben Excesses, den einige der im festen Haus untergebrachten irren Verbrecher im Verein mit einigen bisher zwar nicht bestraften, aber zu allen Streichen geneigten Schwachsinnigen auf Verabredung ausgeführt haben, bemerkt der Bericht: „Die Veranlassung gab ein der Anstalt von der Irrenstation der Breslauer Strafanstalt zugegangener Geisteskranker, der, früher durchaus nicht so gefährlich, dort das Complottiren und gemeinschaftliche Losbrechen gelernt hat. Die entferntere, aber die wichtigere Ursache ist die unverhältnissmäßige Anhäufung derartiger Kranken in der Anstalt. Auch in diesem Berichtsjahre ist die Zahl der der Anstalt aus den Gefängnissen und besonders aus der Moabiter Irrenstation zugegangenen irren Verbrecher noch gestiegen und gleichzeitig die Schwierigkeit, die aus allen möglichen Gegenden dorthin Verbrachten in die zuständigen Provinzialanstalten wieder abzugeben. Es zeigen sich eben die vorausgesehenen Folgen des Systems der Stationen für irre Verbrecher: auf der einen Seite Verschlechterung der Eigenart jedes Einzelnen durch das Zusammensein mit den Anderen, auf der anderen Seite ungerechte Ueberlastung einer Anstalt mit diesen Elementen zu Gunsten anderer Anstalten."

Der Mitinhaber und Mitbegründer des Hauses Loeser & Wolff, Commercienrath Bernhard Loeser stirbt in der Nacht zum 2. Mai. 66 Jahre alt erliegt er einem Leberleiden, durch das er schon seit Februar ans Bett gefesselt war. Der tüchtige Kaufmann und Industrielle benutzte seinen der Tatkraft gedankten Reichtum, um der Kunst zu dienen und ihre Ideale zu verwirklichen. So war der Cigarrenfabrikant Loeser in Berlin Bahnbrecher für das Verständnis Richard Wagners. Zu einer Zeit, als die große Menge für den Schöpfer des Nibelungenrings nur Hohn und Spott hatte, gründete Loeser den hiesigen Richard-Wagner-Verein, als dessen zweiter Vorsitzender er gestorben ist, und noch vor wenigen Monaten überwies er dem Bayreuther Wagnerfonds 10000 Mark. Wagner hat die Verdienste Loesers als Pfadweiser zu seinen Werken durch viele Beweise seiner Zuneigung und Freundschaft anerkannt. Der große Meister stand mit dem Berliner Kaufmann im Briefwechsel und widmete ihm eine Partitur seines Tannhäuser, ein Geschenk, das Loeser als sein kostbarstes Besitztum erachtete, ja in Loeser steckte selbst ein Stück Künstlernatur.

Aus kleinsten Anfängen ließ Loeser seine Firma emporblühen, am Alexanderplatz hatte er am 1. Juli 1865 mit Herrn Wolff einen winzigen Cigarrenladen eröffnet. Heute nennt die Firma in Berlin 65 der prächtigsten Läden ihr eigen und etwas 3000 Arbeiter und Arbeiterinnen sind in ihren Fabriken zu Elbing und Braunsberg mit der Herstellung von Cigarren beschäftigt. Ursprünglich hatte sich Loeser, der als Sohn eines Kaufmanns am 17. April 1835 zu Quedlinburg geboren war, der Landwirtschaft gewidmet. Seine spätere Laufbahn begann er 1859 in Berlin. Er hinterlässt neben seiner Witwe eine verheiratete Tochter und einen 16jährigen Sohn.

Falko Hennig

© scheinschlag 2001
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 04 - 2001