Ausgabe 04 - 2001 berliner stadtzeitung
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Kinderarbeit ist eine Kulturschande"

Dora Benjamin (1901 Berlin ­ 1946 Zürich)

Auf der Flüchtlingskonferenz in Montreux (25. Februar bis 1. März 1945) trat als erster Flüchtling und Vertreterin des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks eine kleine, grauhaarige, von schwerer Krankheit gezeichnete Frau ans Rednerpult. Dr. Dora Benjamin ergriff das Wort für diejenigen „Flüchtlinge, die sich nicht selbst vertreten können, für die Flüchtlingskinder". Sie appellierte an die Zuhörer/innen, in der Diskussion über die „Rück- und Weiterwanderungsfragen" nicht zu vergessen, dass diese durch Flucht und Deportation der Eltern traumatisierten Kinder ein Teil der Jugend seien, in deren Händen der Wiederaufbau Europas liegen werde. Das Engagement für beschädigte Kinder und der Versuch, ihnen den Weg ins Leben wieder zu öffnen, kann als roter Faden in Leben und Werk Dora Benjamins bezeichnet werden.

Ein Nesthäkchen mausert sich

Geboren wurde sie vor 100 Jahren am 30.4.1901 in Charlottenburg bei Berlin als Tochter der Pauline Benjamin, geb. Schönþies, und des Kaufmanns Emil Benjamin. Das Nesthäkchen Dora wird in den Biografien über die berühmten Brüder Walter (1892 ­ 1940) und Georg (1895 ­ 1942) höchstens nebenbei erwähnt, gelegentlich ergänzt durch wenige ungenaue Daten über ihr Leben.

Für eine gute Allgemeinbildung nicht nur der beiden älteren Brüder, doch auch der einzigen Tochter zu sorgen, war im Hause Benjamin wie in anderen bürgerlichen jüdischen Familien selbstverständlich. Dora besuchte die von Helene Lange gegründeten Gymnasialkurse für Mädchen in Berlin. Dort lernte sie Hilde Lange, die Freundin fürs Leben und spätere Schwägerin kennen. Dora Benjamin studierte in Berlin, Jena und Greifswald Nationalökonomie, eine Disziplin, die von den Frauen gewählt wurde, die sich mit der sozialen Frage, den Lebens- und Arbeitsbedingungen von Arbeiterinnen auseinandersetzen wollten. Sie promovierte 1925 in Rechtswissenschaften an der Universität Greifswald „Über die soziale Lage der Berliner Konfektionsheimarbeiterinnen unter besonderer Berücksichtigung der Kinderaufzucht". Ihr zentraler Einwand gegen die auch von der bürgerlichen Frauenbewegung vertretene Auffassung, Heimarbeit müsse im Interesse der Mütter und Ehefrauen aufrechterhalten werden, war: „Die Hauptgefahr bildet hier die Kinderarbeit, der die Heimarbeit trotz Kinderschutzgesetz Tür und Tor öffnet."

Gesunde Nerven

Nach Abschluss des Studiums war Dr. Dora Benjamin in Berlin in verschiedenen Bereichen der Sozialfürsorge tätig. Am Ende der Weimarer Republik wechselte sie von der Mitarbeit an der Zeitschrift „Soziale Praxis" zur praktischen Sozialarbeit. Sie beteiligte sich an Projekten der Mediziner Dr. Ernst Joël und Dr. Fritz Fränkel, den Vertretern einer sozialistischen Gesundheitspolitik am Kreuzberger Gesundheitshaus, so ab 1930 in der dortigen kommunalen Fürsorgestelle für Drogenkranke. Es erschienen von ihr Aufsätze zu Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit sowie über Versuche zum Aufbau der offenen Fürsorge in diesem Bereich. 1929 war sie an der durch das Bezirksamt Kreuzberg eröffneten Ausstellung „Gesunde Nerven" im Gesundheitshaus beteiligt. Walter Benjamin beschrieb Fragestellung und Leitmotiv der Ausstellung: „Was wird für den, der den Prozeß gegen Ausbeutung, Elend und Dummheit rücksichtslos führt, nicht alles zu einem corpus delicti? Den Veranstaltern dieser Ausstellung war nichts wichtiger als diese Erkenntnis und der kleine Chock, der mit ihr aus den Dingen springt... unter einem Interieur aus dem Arbeitsamt ein Foliobogen, der in zehn Kolonnen von oben bis unten nur immer mit dem Worte <Warten> bedruckt ist. Er sieht aus wie die Börsennotierungen einer Tageszeitung. Quer darüber mit fetten Buchstaben: <Der Kurszettel des armen Mannes>."

1931 erschien ein Aufsatz Dora Benjamins in dem großen von Ada Schmidt-Beil herausgegebenen Sammelband „Die Kultur der Frau. Eine Lebenssymphonie der Frau im XX. Jahrhundert" über Verbreitung und Auswirkung der Frauenerwerbsarbeit. Ihre Sprache war politischer und radikaler geworden. Sie beschrieb nachdrücklich die strenge Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und die aus ihr resultierenden zwei, wenn nicht sogar drei Berufe der Frauen: Haus- und Erwerbsarbeit, „Kinderaufzucht". Kompromisslos denunzierte sie wieder die falsche Idylle der Heimarbeit und die Gefahren der Kinderarbeit, wobei sie nicht die Eltern beschuldigte, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse anprangerte.

Dora Benjamin war gleichfalls als Erziehungsberaterin für die Internationale Arbeiterhilfe tätig.

Auf der Flucht

Kurz nach der Machtergreifung der Nazis und den sofort folgenden Verhaftungen der bekannten KPD-Mitglieder Fritz Fränkel und Georg Benjamin þüchtete sie im August 1933 nach Paris und engagierte sich in der von Hanna Grunwald-Eisfelder gegründeten „Assistence Medicale aux Enfants de Refugies". Mit Kriegsbeginn ging die Asylpolitik Frankreichs gegenüber den EmigrantInnen in eine schon seit 1938 vorbereitete Internierungspolitik über. Am 23. Mai 1940 gehörte Dora Benjamin zu dem ersten Transport in das berüchtigte Internierungslager Gurs in den Pyrenäen. Nach der Entlassung wartete sie an verschiedenen Orten in Frankreich auf ein versprochenes US-Visum. Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen im November 1942 in das nicht besetzte Frankreich saßen die Flüchtlinge in Südfrankreich in der Falle. Razzien der Vichy-Polizei und die großen Judendeportationen begannen. Dora Benjamin gelang im Dezember 1942 die Flucht in die Schweiz. Nach neun Jahren Exil hatte die 41-jährige keinerlei Gepäck mehr. Nur wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes wurde sie nicht zurück über die Grenze geschickt und erreichte später sogar eine „Privatinternierung". Trotz schwerer Krebserkrankung unterrichtete Dora Benjamin im Schweizer Exil für verschiedene Flüchtlingsorganisationen. In der Akte des Schweizer Hilfswerks für Emigrantenkinder wurde bei Dora Benjamin mit Handschrift hinzugefügt: „Die meist geschätzte Dozentin inzwischen gestorben." Es war Juni 1946.

Dr. Eva Schöck-Quinteros, Bremen


Die Autorin, Dr. Eva Schöck-Quinteros, berichtet am 30.4. um 18 Uhr über ihre jahrelangen Forschungen zu Dora Benjamin in der Rheinsberger Str. 61 bei „Brunnhilde" e.V.

Weiterführende Literatur: Kapitel über Dora Benjamin (S. 71-102) im Dokumentationsband „Barrieren und Karrieren. Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland". travo verlag, Berlin 2000

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