Ausgabe 04 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Die Straßenbahn passt auf

Es klingt vielleicht merkwürdig, dass ich mich beim Fahradfahren in Berlin sicher fühle, weil es hier Straßenbahnen gibt, aber es ist wirklich so.

Dem Verlauf ihrer Schienen unabdingbar folgend, gilt es, vor den Straßenbahnen auszuweichen. Auf Radfahrer und plötzlich auftauchende Passanten eingestellt, klingeln sie beständig ihr Warnklingeln. Von hinten angeklingelt zu werden, ist bedrohlich, also versuche ich, bevor das Klingeln mir gilt, die Straße zu verlassen, um der Bahn freie Fahrt zu gewährleisten. Auf der Straße selbst ist ein Ausweichen meistens wegen des zugeparkten Seitenstreifens nicht möglich, also heißt es, den Bürgersteig zu erklimmen.

Berlin ist eine autofreundliche Stadt. Die Straßen sind mehrspurig, Achsen verbinden die Stadtteile im großen Stil. Zu den schönen großen Straßen gehören die schön hohen Bürgersteige. Ich habe mich immer gefragt, was es mit dem Imperativ in dem Wort „Bürger steig!" auf sich hat, bei den Natursteinbrocken, die einem hier häufig quer im Weg liegen, findet die Annahme ihre Begründung. Mit dem Fahrrad mich in langsamer Fahrt diesem Naturereignis nähernd, die Straßenbahn im Nacken, erfahre ich die Erweiterung des Begriffes: „Radfahrer spring!".

Absteigen finde ich unsportlich und gestehe ich nur älteren Menschen und beladenen Hausfrauen zu, deshalb bleibe ich im Sattel, stelle mich in der langsamen Anfahrt auf und und reiße im richtigen Moment den Lenker hoch. Der weitere Verlauf hängt stark von Inhalt und Gewicht der im Fahrradkorb untergebrachten Dinge ab. Ungünstigenfalls ist es ein Schwung Bücher, dann wird es eine kleine Verzögerung geben, die mir in geistesgegenwärtigen Augenblicken die Möglichkeit gibt, abzuspringen. Tue ich das nicht, wirft mich die Unwucht der Bücher, die es dem Hinterrad unmöglich macht, das Hindernis zu überwinden, nach vorne gegen den Lenker und ich muss mich beeilen, die gesamte Ladung gegen Kippen zu sichern.

Einmal in diese Lage geraten, rutsche ich in den Augen eines Mountainbikers in der Werteskala wohl nach ziemlich weit unten. Im Besitz
eines dieser Hollandräder im Stil der achtziger Jahre, das Schloss nicht um die Hüfte gebunden, sondern mitsamt der Bücherladung im praktischen Fahrradkorb deponiert, deshalb auch keinen Armeerucksack oder eine diagonal geschulterte bunte Gummitasche tragend, nein, um alle Vorurteile zu bedienen, scheitere ich schon an kleinsten topografischen Unebenheiten.

In Berlin (Ost) lässt es sich sehr gut auf dem Bürgersteig fahren. Ich tue das häufig und sehr gerne. Es herrscht eine Liberalität, von der sich so manche Kleinstadt eine Scheibe abschneiden sollte. Parkt man in Lübeck seinen Wagen mit einem Rad auf dem Fußweg, klebt einem am nächsten Tag ein Zettel an der Windschutzscheibe: „Dieser Weg gehört uns." In Bielefeld legte mir ein Bekannter nahe, bloß immer einen Fahrradhelm zu tragen, Radfahren sei so gefährlich geworden. In Berlin sind die Straßen viel voller und niemand trägt einen Helm. Obwohl ich ein Hollandrad mit Fahrradkorb fahre und mein Schloss nicht um die Hüften binde, bin ich nicht frei von Eitelkeit und finde Fahrradhelme doof, weil sie unkleidsam und schlecht zu verstauen sind. Und außerdem weiß ich, ich brauche keinen Helm, denn ich bin ja sicher: Die Straßenbahn passt auf, dass ich immer auf dem Bürgersteig fahre.

Lilian Wohlleben

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