Ausgabe 04 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Ganz Berlin verrottet

Menschen und Orte im neuen Antlitz der Verhältnisse

Man soll seinen Geist nicht desinformiert lassen ­ diese Losung funktioniert immer dann, wenn fremdes Gedankenterrain einen zunächst zögern lässt. Doch die Buchpräsentation folgte darüber hinaus dem angesagten Eventtrend und lud in eine neue „location" ein: Der noch nicht eröffneten Neubau des Deutschen Technik-Museums lockte zur frühen Abendstunde zahlreiche Gäste, darunter Barbara Groth, SFB-Direktorin im kanariengelben Blazer, in die noch völlig leeren, aber dennoch gut geheizten Ausstellungsebenen.

Wilfried Rott, seit langem bestens bekannt in Westberliner Kreisen, reüssiert seit einiger Zeit als Kolumnist auf den Berliner Seiten der FAZ, fungiert dort gleichsam als Vermittler und Interpret des Berliner Gesellschaftlebens ­ die Neuankömmlinge in der Stadt mit der gehobenen Version des Klatsches über Altlasten von Beischlaf und Fraternisierung versorgend, die Eingeborenen dagegen fürsorglich mit den sich nach dem Mauerfall neu formierenden Allianzen und noch gewöhnungsbedürftiger hauptstädtischer Lebensart vertraut machend.

Nun sind diese Lebenshilfen für die gehobenen Schichten und Adabeis zwischen zwei Buchdeckeln verewigt, deren Titel „Prof. Rott geht durch die Stadt" die Profession des Akteurs zwischen Flaneur und Kontrolleur changieren lässt.

Dass Herr Rott dennoch kaum zu Fuß unterwegs ist, offenbaren nicht zuletzt seine zahlreich eingeflochtenen Nebensätze, die fehlende Parkmöglichkeiten bei hochrangigen Ereignissen beklagen, ein Parken auf dem satten Rasen der Villa Lemm dagegen aufs Vortrefflichste loben. Auch ein in vollen Zügen genossener Mouton-Rothschild gerät auf der Heimfahrt noch einmal, nun seiner Quantität wegen, in Erinnerung.

Die Annehmlichkeiten, die gelungenen Momente ­ immer ist es ein Wagnis für Prof. Rott, sie aufspüren zu wollen, schon Glück, einen Zipfel davon zu erhaschen, sich dem festlichen Anlass ohne Trübung hingeben zu können. Die Malaisen lauern ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit unerbittlich auf. Die Darreichung der Speisen auf der Galaveranstaltung vor dem Deutschen Theater wertet er schon mal als Atzung, zu bunte oder auch eintönige Kleidung verstört sein Auge, bohrt gar jemand in der Nase oder kratzt sich unter den Armen, bleibt ihm nur ein rettender süffisanter Kommentar zu den neuen Gewohnheiten an der Schaubühne. Allein der Anblick von mit Hussen überzogenen Stühlen weckt phobische Vermutungen. Könnte sich damit doch ein prosaisches IKEA-Modell „Ögla" getarnt haben.

Sei's drum. Vergessen, vergeben alle Mäkelei des Bonvivants. Der Leser nimmt von zu Hause aus als Zaungast an Privatem und Öffentlichem, an Seriösem und Peinlichem verwundert, befremdet oder amüsiert teil. Derweil die Zuhörer vor Ort nach der Lesung des Autors noch auf die hoch oben schwebende, große Terrasse hinaus an die frühlingsverheißende Abendluft treten konnten ­ über ihren Köpfen ein legendärer Rosinenbomber und in der Ferne die illuminierte Kulisse des neuen Berlins: Der Potsdamer Platz als Tummelplatz der neuen Eitelkeiten war selbstverständlich mehrfach ins rottsche Visier geraten.

Sabine Schuster

Wilfried Rott, Prof. Rott geht durch die Stadt.
Quadriga Verlag, Berlin 2001, 247 Seiten, 36 Mark

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