Ausgabe 04 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Einstürzende Bauten

Eine Topografie des Lebens

Greil Marcus war zweiunddreißig und Musikjournalist, als, wie er schrieb, sein Leben eine unerwarte Wendung bekam, weil er in ein Konzert ging. Eine Nacht, deren Intensität alles, was er bislang gekannt und geahnt hatte, zusammenbrechen ließ, in einem höhnischen Stakkato, der ihm triste Sozialbauten, hässliche Architektur, miesen Pubrock, verpisste Flure und das einsame Verdämmern alter Alkoholiker entgegenzuschleudern schien, ohne Sehnsucht, mit einer höhnischen Klarheit, die lieber die Welt ausradieren als sich falschen Hoffnungen hingeben wollte. Wer da auf der Bühne stand waren Zwanzigjährige aus London, die nichts hatten als diese Musik, nie mehr gehabt hatten als diese Musik, Kids aus den falschen Vierteln, aber in diesem Moment betrat Greil Marcus einen seelischen Raum, den er so noch nie gekannt hatte, luzide und klar, mit dem Wunsch, Gewalt gegen jene anzuwenden, die sie ausüben, und er spürte einen, wie er schreibt, verrückten Hass.

1978

Es war der 14. Januar 1978, die Sex Pistols hatten ihr letztes Konzert im „Winterland Ballroom" gegeben, in San Francisco. Und in dieser Winternacht wurde Greil Marcus zu einem imaginären Emigranten, der staunend bemerkte, wie sich in ihm neue Räume auftaten, ähnlich dem, der einen Flughafen verlässt und die Gerüche und die Atmosphäre einer neuen Welt einsaugt.

Träume der Emigranten

Das, was im „Winterland Ballroom" sich zeigte, war Punk, eine neue Kultur, eine neue Musik, etwas noch nie Gekanntes. Hanif Kureishi lässt in seinem „The Buddha of Suburbia" einen seiner jugendlichen Helden sich das „glamrock"-Hemd vom Leibe reißen und halbnackt in ein Auto voller Punks steigen, um ein neues Leben zu beginnen. Der Held findet das, wonach er sich immer gesehnt hatte, in dem Roman, in Parallele gesetzt zu dem fetten Emigranten aus Indien, der mit hässlichen Koffern am Flughafen ankommt, um die von beiden Familien Auserwählte zu heiraten. Denn für Kureishi sind beides, die kulturelle und geografische Migration, Metaphern derselben Bewegung, der verschiedenen Räume, die gesucht werden, um Leben zu finden.

Zehn Jahre später, 1989, schrieb Greil Marcus die „Lipstick Traces", in denen er seine Emigration verarbeitete, seinen Schock, als für ihn sein kulturelles Universum erschüttert wurde. Immer wieder umkreist er in diesem Buch diesen Moment, diesen Nadir seiner Karriere, ähnlich dem Kreisen von Joyce und Kafka, die in verschiedenen Varianten immer das Exil oder die gemachte Emigration verarbeiten. Joyce, der in Triest seinen Ulysses in einem Turm südlich von Dublin beginnen lässt, mit dem Blick auf die irische See und Dublin im Norden. Oder Kafka, dessen einziger in Schriftdeutsch verfasster Roman, der sprachlich auch als solcher konzipiert war, einen Sechzehnjährigen in die Staaten auswandern lässt und „Amerika" heißt: Kafkas Blick ist dessen, der am Ufer steht, ein Schiff aus dem Hafen auslaufen sieht und sich an Bord verträumt.

Aufbruch zum Horizont

„London Calling" ist der Moment, wo Koffer auf das Busdach geworfen werden, Gäste sich auf den Sitzen drängen und der Diesel angelassen wird. Die Fremde, die vor den Autoscheiben vorübergleitet, wenn Familienmitglieder den Neuankömmling vom Flughafen abholen oder die Postkarten, die von schimmernden Hochhäusern erzählen und neben das Kofferradio auf dem Küchenbord in Laos oder Kasachstan geklemmt werden. Die Fäden, die Hoffnung, Emigration, Wanderung und Subkultur verbinden. Der Aufbruch aus der Enge, ob sie nun Schwabach oder Marrakesch heißt, das Land hinter dem Horizont, mit der einzigen Hoffnung, die das neue Land bietet, jenem Halt der Subkultur, der die intellektuelle Boheme des Joyce in Triest, die muslimische Identität des Dönerverkäufers im Wedding oder die Cafés der Existenzialisten im Paris der Fünfziger verbindet.

Die Nacht der gepackten Koffer

Revolutionäre ästhetische Subkulturen als radikale Räume sind nicht angesagt, im Moment, in den Resten der Linken, die damit schleichend die eigene Erzählung der Migration und der Hoffnung abgeben. Noch schlimmer ist, wenn die Zeit des Undergrounds diskret aus dem Gedächtnis verschwindet. Man sieht nicht mehr, dass eigenes Outfit und subkulturelle Distanz zu der „normalen" Welt in der Ferne Wärme und Nähe bedeutet hatten, es bleiben die klammen Nächte in fremden Metropolen vergessen, wenn plötzlich Gleichgesinnte zu Squats und Essen geführt hatten und das „Anderssein" Kontakte ermöglichte. Natürlich, die Fremden, die hierher kommen, tasten sich an den Netzwerken ab, die sie vorfinden, und wenn sie dabei Schleier tragen, so mag das für einige befremdlich sein. Die Rede von Assimilation und der Argwohn, der auf die Fremden blickt, egal ob sie Haarkämme oder Gebetsmützen tragen, gibt gleichzeitig die Befindlichkeit derjenigen preis, die vielleicht intuitiv spüren, dass der Halt in der Fremde häufig mit subkultureller Divergenz verknüpft ist, und dass sie selber ohne Netzwerk dastünden, müssten sie fort und für ihr Leben eine Revolution wagen.

In der Debatte, die Demokratrie, Bürgerrechte und Zivilgesellschaft umfängt, wird vergessen, dass die Nacht, da die gepackten Koffer in der Wohnung stehen, die nun verlassen wird auf immer, gleich ist jenem tiefen, befreienden Schrei nach Revolte, nach Chaos, und dem Erlöschen der Ordnung. Ja, es sind die Brüche, die gesprengten Areale, die weiten leeren Plätze des Ostens, der Alexanderplatz, der wie in einem grotesken Roman erst abgeräumt wurde, damit seine Weite von der siegreichen Revolution erzähle, die dann auf ihm stattfand, weil er so vielen Menschen Platz bot. Nein, man sollte sie erhalten, die Topografie der Leere, der Revolution, der gepackten Koffer, der startenden Reisebusse und der Subkultur, die anders als alle anderen ist, einfach, damit wir nicht sterben.

GMZ

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