Ausgabe 03 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1901

22. März bis 18. April

Die Gefangenen wer- den demnächst durch die Stra-ßenbahn vom Polizeigefängnis am Alexanderplatz zum Strafgefängnis in Tegel transportiert werden. Man hat bereits ein Verbindungsgleis legen lassen, das Anschluss an die durch die Stralauer Straße führenden Straßenbahngleise hat. Am 22. März schleppt der Motor 1978 einen der neuen grünen Wagen bis zum Polizeidienstgebäude, An der Stadtbahn 16. Auf diesem geräumigen Hof sollen die Passagiere der unheimlichen Anhängewagen künftig einsteigen. In das Eingangsportal führt eine provisorische Kurve, deren genauer Verlauf von Beamten der Straßenbahngesellschaft und der Polizei geprüft wird. Als der große, mit 22 Zellen versehene Wagen in das Portal hineingeschoben wird, zeigt es sich, dass das grüne Ungeheuer bei seiner Einfahrt eine Seite des Mauerwerks gefährdet. Durch Abschrägungen der Ecken hofft man, mehr Raum zu gewinnen. Der Probefahrt wohnt ein zahlreiches Straßenpublikum bei, das vom Aussehen der elektrischen "Grünen" sehr befriedigt scheint. Etwas düster wirkt dieser Wagen schon, befindet sich doch auf jeder Längsseite nur ein Fenster mit matt geschliffener Scheibe. Darüber steht in roter Schrift: "Königl. Strafgefängniß Tegel, Wagen Nr. 1".

Einen Richard-Wagner-Abend veranstaltet am selben Abend Herr Paul Berthold im Hotel de Rome. Herr Berthold nennt sich Schauspieler und Rezitator und versucht sich schließlich auch noch am Flügel. Das ist viel auf ein mal und setzt eine gewissen Genialität voraus, diese besitzt aber Herr Berthold nicht. Als Schauspieler fehlt ihm zunächst die Feinheit der Rhetorik, die besonders für dramatische Vorträge, wie beim "Epilog auf Wagners Tod" von Wildenbruch unerlässlich ist. Bei den Rezitationen vermag er weder die Charaktere noch die Stimmungen auseinanderzuhalten, während sein Klavierspiel das Können eines nicht untalentierten Dilettanten kaum überschreitet. Besser ist es um die übrigen Mitwirkenden bestellt, besonders Hofopernsänger Rudolf Eichhorn ist mit Anerkennung zu nennen. Er ist ein Wagnersänger von großen Mitteln, dessen Heldentenor besonders in der Höhe von großer Klangschönheit ist. Auch Herr Joseph Kracht, der allerdings noch Anfänger zu sein scheint und in Bezug auf Phrasierung und Atemeinteilung noch manches lernen muss, besitzt eine schöne Tenorstimme, während Herr Fritz von Januszkiewicz anerkennenswerte Proben als angehender Klavier-Virtuose liefert.

Ein Spielernest wird am späten Abend im Rallandschen Restaurant, Landsberger Allee 156 durch einen Beamten der Criminalpolizei ausgehoben. Schon vor einiger Zeit hatte sie die Wahrnehmung gemacht, dass in jenem Lokal von eine große Anzahl Schlächtermeister und Händler dem Hazardspiel unter namhaften Einsätzen huldigt. In einem Augenblick, in dem das Spiel des außergewöhnlich stark besuchten Clubs seinen Höhepunkt erreicht zu haben scheint, betritt der Criminalwachtmeister plötzlich das Spielzimmer, erklärt das Spiel, dem auch der am meisten überraschte Wirt beigewohnt hat, für beendet, beschlagnahmt die Karten und lässt die insgesamt 25 Glücksspieler einzeln vorstellen, um für das Nachspiel vor Gericht die erforderlichen Personalien aufzunehmen.

"In eigener Sache" äußert sich das Dresdener Chemische Laboratorium Lingner in einer Anzeigenserie. Grund sind verschiedene Schreiben an die Firma: "Ihr Odol ist ausgezeichnet, und ich möchte kaum noch ohne Odol leben, aber Ihr Flaschen-Verschluß ist miserabel." Dazu stellt das Laboratorium fest: "Der Flaschen-Verschluß ist schon gut, aber das Malheur ist: Kein Mensch liest heutzutage eine Gebrauchsanweisung. Um endlich einmal Klarheit zu schaffen, geben wir hiermit folgende Erklärung: Man hat nur zweierlei zu beachten: 1. Vor dem ersten Benutzen der Flasche muß das Pergamenthäutchen im Innern des Flaschenmundes durchstoßen werden. Zu diesem Zweck ist jeder Flasche ein Stäbchen beigegeben. Das Stäbchen wird durch den zu öffnenden Ausguß eingeführt. 2. Nach rechts wird gedreht, um die Ausgußöffnung der Flasche zu verschließen, nach links, um die Flasche zu öffnen. Will man eine Reise machen, so habe man die Güte, die Odolflasche vor dem Einpacken in den Koffer ganz zu verschließen und nicht halb, wie das Manche in der Eile thun. Läßt man die Flasche halb offen, so sickert das Odol ganz selbsverständlich durch den offen gelassenen Verschluß durch. Es ist genau dasselbe wie bei einer Stubenthür. Schiebt man den Riegel blos halb vor, dann bleibt die Thür doch offen. Der Riegel muß eben so weit geschoben werden, bis er nicht weiter geht, dann erst ist die Thüre wirklich zu. Ebenso bei der Odolflasche: man muß soweit drehen, bis es nicht weiter geht, dann ist auch die Odolflasche zu. Es ist ja ohnehin nur eine kurze Drehung nöthig. Man braucht nur darauf zu achten, daß die kleine Narbe senkrecht unter der Ausgußöffnung steht."

Die alten Standsteingruppen auf dem Leipziger Platz sollen demnächst erneuert werden. Dieser Platz entstand bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und hieß früher "Achteck am Potsdamer Thor". Zur bleibenden Erinnerung an die gewaltige Völkerschlacht bei Leipzig am 16., 18. und 19. Oktober 1813 erhielt er durch Königliche Kabinets-Ordre vom 15. September 1814 die heutige Bezeichnung. Mitten in dem tosenden Verkehrsleben der weltstädtischen Leipziger Straße gelegen, bildet er mit seinen alten Baumgruppen einen unzugänglichen Ruhepunkt, da er ringsherum mit einem ständig verschlossenen hohen Eisengitter umgeben ist. Es ist befremdlich, dass noch niemand daran gedacht hat, diesen schönen, großen Platz mit seinem grünen Rasen und seinen schattigen Baumbeständen der öffentlichen Benutzung zu erschließen. Es brauchten nur einige Eingänge in dem Gitter geschaffen und einige Wege mit Bänken angelegt zu werden. Eine moderne, der Bedeutung seiner Lage entsprechende Umgestaltung dieses Platzes ist lange überfällig.

Falko Hennig

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