Ausgabe 03 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Zunge und Beil

Mit Max Müller dem Verbrechen über die Schulter geschaut

"Der Osten war bevölkert mit rechtsradikalen Arnie-, Brad Pitt- und Till Schweiger – Klonen. Abgrenzung von Armut und Dummheit war nur noch durch Kleidung möglich... Alle wurden sich äußerlich immer gleicher... Schick wurde es zum Beispiel, dem Ehepartner zur bevorstehenden Geburt des Sprösslings bzw. dem Säugling einen genetischen Defekt zu schenken. Ein abstehendes Ohr vielleicht oder einen fehlenden Finger..." In dieser grausamen und doch so greifbar nah scheinenden Erzählung Max Müllers spielt eine Zunge die Hauptrolle. Tatsächlich, eine Zunge! "Der Star jener Zeit war eine gewisse Zorma Greek (eigentlich Köschte Jöcklocki, eine gebürtige Ungarin). Sie bestand nur noch aus einer Zunge.
Diese allerdings mit Silikon und anderen Implantaten so aufgepumpt und geformt, dass Kleider der diversen Modemacher an ihr immer noch raffiniert und unwiderstehlich aussahen." Müllers Phantasie kennt keine Grenzen. Seine Models der drohenden Zukunft tragen Stümpfe, gespaltene Arme oder kahlrasierte Köpfe ohne Nasen und Ohren mit zugenähtem Mund auf den Laufstegen des Klon – Zeitalters.

Im Berliner Verbrecherverlag erschien kürzlich das erste Buch des Bandleaders von "Honka", "Camping Sex" und "Mutter". Der in Wolfsburg geborene malende, schreibende, singende und filmende Schelm setzte sich früh in Richtung Berlin ab. An seine Heimatstadt erinnert der Titel seines Sammelbandes, der im Buch keine Entsprechung findet (vermutlich gibt oder gab es in Wolfsburg ein Musikcafé, das den Jugendlichen bleibend beeindruckte). Die 141 Seiten des Buches bieten neben köstlichen, auf engbedrucktem Papier wenig Platz beanspruchenden Geschichten lakonische Gedichte und wunderbare Bilder: Zeichnungen von seltsamen Gestalten, nackten Mädchen, einer Tänzerin, einer Schönen, einem Verrückten usw.

Die Geschichten sind verhext. Da wacht einer auf, aber nicht morgens oder nachmittags; "nach zweijährigem Koma von der Ehefrau im Wohnzimmer beim Fernsehen erwischt zu werden, ist eine peinliche Situation. Auf die Erklärung ist jeder gespannt. Doch der Reihe nach…" Die Erklärung ist absolut sonderbar. Max Müller verkehrt die Welt mit kindlicher Leichtigkeit, ohne jemals in seichten Gewässern zu dümpeln.

Herausragend ist die Geschichte "Alditüten". Sie beginnt in Andalusien, eine alte Frau mit Alditüten humpelt zu ihrer Hütte. "Die Tüten waren ein Andenken an ihren Sohn, der seit über zwanzig Jahren in Dortmund/Deutschland lebte… Aldi! Aldi! Aldi! Immer wieder dröhnte das Wort in ihrem Schädel. Was konnte das wohl bedeuten?… allí (spanisch für: dort) klang ähnlich, aber was sollte ihr das sagen? Dort? Dass ihr Sohn in Dortmund lebte? Das wusste sie schon lange..." Als sie nun am Jahrestag des Verschwindens ihres Sohnes wieder einmal seine frisch gewaschene und inzwischen zerschlissene Wäsche in Alditüten über den Berg zur Hütte trägt, ruft sie "Aldi!!" Und der ferne Sohn spürt es. Fühlt sich zum Ferngeständnis aufgerufen; "ja, verdammt. Ich habe es getan. Ich bin der, der diese verdammte Schlampe und die drei Wechselbälger umgebracht hat... Mit der stumpfen Seite des Beils hatte er die noch recht kleinen Köpfchen von Alisa und Marie-Claire wie zwei faule Melonen zertrümmert... Von dem Lärm muss wohl die Älteste wach geworden sein. Er verfehlte sie knapp, das Beil schlug in die Blümchentapete des Flurs und blieb stecken, als sie mit angsterfüllten Augen an ihm vorbeilief..." Die alte Mutter ist indessen in der unbewohnten Hütte angelangt und erblickt einen Schatz im verstaubten Kinderzimmer: die verzierte Schatulle der ältesten Tochter ihres Sohnes (die nach vier Runden um die Hütte seinerzeit auch erlegt wurde). Sie findet ein verkrustetes Beil und zersplittert die Schatulle und – versehentlich den eigenen Schädel.

Noch mehr Bösewichte und Weichlinge finden Platz in Max Müllers Musikcafé. Ein kleiner Junge wird nach einem ekelhaften Erfrierungstod im Himmel von seiner erschlagenen Mama und seinem sich selbst gerichtetem Vater begrüßt, der alles zu verantworten hat. Und am Ende werden sie glücklich. Ein Bordellbesucher erleidet einen elektrischen Schlag und die ermittelnden Beamten finden tief unter dem Leichnam das Bernsteinzimmer... und, ach was, lesen Sie selbst!!!

Anne Hahn

Max Müller, "Musikcafé Wolfsburg", Geschichten, Gedichte, Bilder, Verbrecher Verlag, Berlin 2000, 110 Seiten, 24 Mark

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