Ausgabe 03 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Original mit Untertiteln?

"Gestern" – eine gelungene Romaninszenierung nach Agota Kristof

Nachdem vor einiger Zeit die Seifenoperisierung des Theaters bedenkliche Ausmaße angenommen hatte (scheinschlag berichtete), ist vermehrt eine Wiederbesinnung auf die "wahren Geschichten" zu beobachten. Geschichten, die das Leben schreiben könnte. Und das ist auch gut so. Da ist es auch opportun, einen Roman zu dramatisieren, der von der Grundkonstellation her eine prima lateinamerikanische Telenovela hergeben könnte. Die Rede ist von "Gestern" nach Agota Kristof im Theater zum Westlichen Stadthirschen. Diese Dramatisierung ist der letze Teil einer"Trilogie der Trennungen" genannten Folge von Romanbearbeitungen.

Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein Junge lebt in völliger Armut mit seiner sehr jungen Mutter am Rande eines Dorfes. Zum Überleben hat die Mutter häufig Männerbesuch. Eines Tages bekommt der Junge mit, dass sein Vater der Dorfschullehrer ist. Das trifft ihn besonders, weil er sich unsterblich in dessen legitime Tochter Line verliebt hat. Eines Tages, nach einem Streit seiner "Eltern", versucht er ihn umzubringen und flüchtet. Irgendwie gerät er dabei über die Grenze und wird im anderen Land im Waisenhaus erzogen. Er lebt sich ein, wird später Fabrikarbeiter, hat ein einheimisches Bratkartoffelverhältnis, Jolande. Als eines Tages seine alte Jugendliebe Line unverhofft auftaucht, beginnen die Probleme.

Das könnte alles unglaublich schmalzig sein. Da ist aber der kühle, konstatierende Blick der Autorin Kristof vor. Und der Regie von Erick Aufderheyde ist es gelungen, diese Distanz in der Erzählung zu wahren. Es gibt keine Identifikationsmöglichkeiten, da die Schauspieler die Rollen wechseln. Zwar ist ein Muster zu erkennen: Vater wird Sohn, Sohn wird kindlicher Freund, Mutter die Angebetete. Mitfühlen im klassischen Sinne wird schwergemacht. Eher hat die Aufführung etwas vom Brechtschen V-Effekt.

Der Bühnenaufbau ist Off-Theater-üblich spartanisch. Weiße Wandschluchten, die einen breiten Korridor bilden, ein Tisch, eine Bank, Stühle und aus der Wand gezogenen Liegen. Darin agieren die Schauspieler in Kostümen, die an "Dancer in the Dark" erinnern, auch sonst ist ein leichter Einfluss des Films zu verspüren, was nicht negativ auffällt. Einmal gibt es auch eine offensichtlich davon inspirierte Tanzeinlage.

Zunächst betritt ein Mann die Bühne und verlangt von einer imaginären Person, zu erzählen, wo sie eigentlich herkommt. Dann taucht ein anderer Mann auf, der erzählt, wie er gestorben ist. Die Szene wechselt, einer sitzt in der Ecke und schreibt etwas in ein Heft. Das Motiv des Schreibens zieht sich durch das gesamte Stück. Verzweifelt klammert sich die Hauptfigur Sandor an das Schreiben, als hinge sein Leben davon ab. Am Ende wird er damit aufgehört haben, er hat sich arrangiert und sein Verhältnis geehelicht. Parallelen zu einem anderen Film ließen sich ziehen: zu "Leolo", wo sich ein kleiner Junge ans Lesen klammert und so der Tristesse seiner pathologisch verrückten Familie zu entkommen sucht.

Der Flüchtling Sandor rettet sich in das Träumen, von der Vergangenheit, von der Idealfrau Line, die eines Tages leibhaftig erscheint. Er träumt davon, Schriftsteller zu sein und schreibt in der Sprache "von hier", also des fremden Landes. Welche das ist, kann nur geraten werden. Das ist auch nicht so wichtig. Flüchtlinge gibt es überall.
Die Geschichte entspinnt sich nur allmählich. Es geht um Sprache, Fremdsein, Leidenschaften. Die großen Themen der Autorin Agota Kristof, die selbst aus Ungarn in die Schweiz flüchtete. Es macht Spaß, dem wunderbar aufeinander eingespielten Ensemble zuzuschauen.

Spielszenen und zum Publikum gewandte Kommentare wechseln. Manchmal kommt eine Stimme scheinbar aus dem Off, obwohl der Sprecher zu sehen ist. Währenddessen wird auf der Szene gespielt. So entsteht der Eindruck eines Kammerspiels auf der Bühne, derweil im Kopf ein Breitwandspielfilm mit viel dörflicher Landschaft entsteht. Man glaubt eine andere Sprache zu hören, Original mit Untertiteln sozusagen.

Ingrid Beerbaum

"Gestern", Theater zum Westlichen Stadthirschen, Kreuzbergstraße 37, fon 785 70 33, Termine: 21.–24.3., 27. und 29.3., 4. und 7.4.

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