Ausgabe 03 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Viel Bauen hilft viel

Auf schmalem Terrain hasten die Passanten voran: Block an Block auf der einen, lärmender Verkehr auf der anderen Seite – inmitten einer Straßenschlucht, den Blick fixiert auf den Fluchtpunkt, irgendwo ganz weit hinten. Allein im Eckgeschäft der Bäckerei "Kamps" sitzen die Leute, um schnell eines der überteuerten belegten Baguettes zu essen.

Der mittlere Teil der Friedrichstraße gehört schon heute zu den beeindruckendsten Beispielen, wie Monotonie und Enge nicht aus der Not heraus, sondern freiwillig geplant und realisiert werden: Die Wiederherstellung des historischen Stadtgrundrisses sollte vor allem eine urbane Dichte erzeugen – automatische Belebung des Straßenraums inklusive. In der Tat gibt es eine Menge

Autos auf der Friedrichstraße, aber auch die scheinen sich nicht richtig wohl zu fühlen und stecken meistens im Stau.

Mittlerweile hat die "kritische Rekonstruktion" auf dem nördlichen Abschnitt der Friedrichstraße dem kleinen Park vor dem Bahnhof den Garaus gemacht und gegenüber die Flachbauten vor dem Internationalen Handelszentrum geschluckt. Die noch vorhandenen Freiflächen bis zur Ecke Oranienburger Straße werden ebenfalls über kurz oder lang bebaut.

Auch für den letzten öffentlichen Platz an der Ecke Friedrichstraße/Unter den Linden sucht der Finanzsenator Peter Kurth (CDU) aktuell erneut einen Käufer, der sich nun mit der Baustelleneinrichtung für die U-Bahnlinie 5 arrangieren muss. Der Bezirk Mitte wollte ursprünglich einen Teil der Fläche als Stadtplatz erhalten, doch im Sommer 2000 erkannte Stadtentwicklungssenator Peter Strieder (SPD) eine "außergewöhnliche stadtpolitische Bedeutung" an dieser Stelle, die "ein markanter Punkt im Berliner Stadtbild" sei – und konnte so die Aufstellung des Bebauungsplans dem Bezirk entziehen. Doch bedeutet das Striedersche Urteil noch lange nicht, dass an dieser Ecke irgendein Gebäude mit stadträumlichen Qualitäten entstehen muss. Ausschlaggebend für den Senat, die Planung zu übernehmen, ist allein der finanzielle Gewinn, der sich aus dem Verkauf des kompletten Grundstücks zur vollflächigen Bebauung ergibt. In haushaltsschwachen Zeiten wird der Finanzsenator leicht zum eigentlichen Gestalter der Stadt. Das auf der gegenüberliegenden Ecke 1997 fertiggestellte und äußerst plump wirkende "Lindencorso" bietet geradezu ein abschreckendes Beispiel für die Bebauung eines markanten Punktes – samt Autogeschäft im Erdgeschoss. Kanzler Schröder konnte es wahrscheinlich auch nicht glauben, dort an vorgeblich prominenter Stelle Unter den Linden zu sein, so dass er in der Rede zur Eröffnung des Autosalons lieber vorsichtshalber von der "Lindenstraße" sprach, wo man sich gerade befinde.

In naher Zukunft wird die Friedrichstraße auf ganzer Länge eine konsequent realisierte Straßenschlucht sein – geschuldet der Ideologie einer sogenannten "kritischen Rekonstruktion". Für alle Zukunft gehorsamst nur einer einzigen uninspirierten Idee verpflichtet: der unerbittlichen Blockrandbebauung.

Und die verlorengegangenen Plätze werden als private Lichthöfe in den Gebäudeinnereien wiederauferstehen, in künstlich beatmeten und belebten Welten, immer bewacht und nass gewischt von diensteifrigem Personal. Ladenpassagen werden in die ersten und zweiten Untergeschosse gedrückt, jeden Tag mit immer gleicher Wattzahl beleuchtet.

Und der Pariser Platz wird den Passanten zukünftig immer mehr für all das entschädigen wollen. Mit Rasen und Blumenrabatten, die jedes Jahr schöner werden, und Zäunchen und Wasserspielen, ganz reizend. Bald schon historisches Pflaster, wie früher.

Erst wenn alle Baulücken geschlossen sein werden, hat die "kritische Rekonstruktion" ihren Auftrag erfüllt und kann zu Grabe getragen werden.
R.L.

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