Ausgabe 12 - 2000 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Musik für die Massen

Kantrie

Man nehme eine Gitarre und eine Fiedel, packe ein paar aufrichtige Amerikaner dahinter und lasse sie etwas von der Größe der Staaten ­ wahlweise auch nur der Südstaaten ­ singen, drapiere das ganze in einer Bar mit cowboystiefeltragenden Rednecks und raus kommt: Country ­ soweit das Vorurteil.

Johnny Cash sprengt dieses Klischee seit Jahrzehnten. Ohne großen Wirbel hat Cash erfolgreich alle Country-Stereotypen vermieden. Nun schließt er seine American Trilogie mit dem Album Solitary Man (Sony). Das erste Stück auf der Platte ist eine Coverversion von Tom Pettys I won´t back down. Ein Song über das Nichtaufgeben und Nichtloslassen-Wollen. Cash ist seit ein paar Jahren an Parkinson erkrankt und vor diesem Hintergrund stellen sich beim Hören mindestens die Nackenhärchen auf, zumal er in den Liner Notes schreibt, dass dies sein letztes Album sein wird. Ohne jegliche Aufdringlichkeit wird das ganze Album von einer unpathetischen Tiefe getragen, und das vielleicht am eindringlichsten bei der Interpretation von Nick Caves Mercy Seat. Dazu schreibt Cash, dass es eine ganze Weile gedauert hat, bis die Coversongs zu seinen eigenen Songs wurden. Beim Hören scheint es, als ob sie sich regelrecht in ihn hineingebrannt hätten, und sie für niemand anderen geschrieben worden wären.

Aber Country muß ja gar nicht so düster sein. Das zeigen ausgerechnet zwei Tonträger aus (ja!) Deutschland. Auf dem Cash-Album gibt es eine liebevolle Nummer mit dem Titel: Country-Trash. Man weiß es nicht ­ kennt Johnny Cash das Jim Wayne Swingtett? Denn was die vier Herren Wayne zusammengespielt haben, verdient genau diese Bezeichnung: mit besten Willen, einer Portion Dilettantismus und extrem viel guter Laune bringt das Jim Wayne Swingtett nicht nur Cowboystiefel zum wippen. Auf Time & Efforts (Warehouse/Indigo), dem zweiten Album der Band spielen sich die Waynes durch die Weite der Country-Landschaften. Mit dem Opener Ricky´s Revenge reiten sie durch wilde TexMex-Land, heulen sich bei Remember die Augen auf der Verenda irgendwo in Arizona aus und zeigen bei dem Titelstück alle notwendige Cowboyhärte ­ cool.

Landschaftliche Erkundungen finden sich auch auf der grandiosen Zusammenstellung Land of the Kantrie Giants (xxs records/Indigo) vor. Halma beispielsweise verlegen die texanisch-mexikanischen Kakteenlandschaften kurzerhand in die Ostsee: mit einem mysteriösem Sample, der von verschollen Bojen und Leuchtschiffen wahrscheinlich aus irgendeiner Langwellen-Seeradioshow geklaut ist, wird Meer zur Wüste. Fast möchte man schreien: Ja, das ist die Sehnsucht, die Country die Seele verleiht! Dafür braucht es keine peinliche Cowboyhut-Faschingsparade á la Truckstop. Und so kreieren, transformieren und covern 21 Bands munter ihre Kantrie Giants. Ob mit Fiedel und Kaugummiamerikanisch oder staubtrocken auf Deutsch. Nie war der Begriff Country weiter gefaßt. Besonders auf dem zweiten Teil sprengt die Compilation den üblichen Countryrahmen und wird zum Beleg dafür, dass ausgeleierte Schubladen schlichtweg wunderbar und stilbildend sind.

Marcus Peter

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  Ausgabe 12 - 2000