Ausgabe 12 - 2000 berliner stadtzeitung
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Das Wunder der Wunden

Blut, Dreck, Religion ­ ein Comicroman aus Italien

Ein Mann um die Vierzig, massive Statur, Trinker, erwacht aus seinem Rausch und findet sein Laken blutgetränkt. Über Nacht haben sich Wunden in seinen Handflächen gebildet. Die Wunden schließen sich nicht und das Blut hört nicht auf zu fließen. Die Ärzte finden keine Erklärung.

Der namenlose Icherzähler sträubt sich wütend gegen die religiösen Heilshoffnungen der Nachbarn ob seiner „Stigmata". Bald aber hat er andere Sorgen. Wegen der unaufhörlichen Blutungen verliert er seinen Job als Kellner und rutscht ab in die Obdachlosigkeit, bedroht von mordlüsternen Neonazibanden, die in der trostlosen Industriestadt Jagd auf Ausländer und sonstiges Gesindel machen. Er schließt sich Schaustellern an, wird „Wunderheiler" und verliebt sich. Kurzes Glück im langen Schmerzenstal, das seine Schöpfer, der Comiczeichner Lorenzo Mattotti und der Schriftsteller Claudio Piersanti, für ihn vorgesehen haben.

Er verliert erst die Frau, dann den Verstand und landet stumm und apathisch im Krankenhaus. Bis ihn der liebe Gott der hemmungslosen Mystiker Mattotti und Piersanti am Ende dann doch noch erwischt.

Mattotti, Mitgründer der legendären Comic-Künstlergruppe „Valvoline", war einer der Hauptinitiatoren des neuen Schubes italienischer Comicavantgarde Anfang der achtziger Jahre. Ruhm erlangte er vor allem für die glühenden Farbräusche seiner einzigartigen Ölkreidetechnik, exemplarisch ist hier sein Meisterwerk „Feuer", das bereits als moderner Klassiker gilt. Wie schon den Comicroman „Der Mann am Fenster", zeichnete er „Stigmata" jedoch mit Feder und Tusche. War der Vorgänger noch leicht und lichtdurchflutet, so herrscht nun schweres, düsteres Chiaroscuro vor, der Härte des Inhalts entsprechend.

Mattottis berühmter Landsmann Caravaggio ist der Meister, der mit extremen hell/dunkel-Kontrasten arbeitenden Chiaroscuro-Malerei. Wie dieser orientiert sich Mattotti mit voller Härte an den brutalen, hässlichen Details des Lebens am unteren Rand der Gesellschaft, denen er mit seiner speziellen Ästhetik eine krude Eleganz verleiht, ohne sie durch Ästhetizismus zu verharmlosen.

Seine Zeichnungen erscheinen wild und roh, sind jedoch aus unzähligen feinsten Strichen präzise komponiert, eine geschmeidige Mischung aus nervöser Improvisation und meditativer Kontrolle.

Mit diesen Mitteln entwirft er das Bild eines brutalen, schmutzigen Italien, eine moderne, verschärfte Version von Fellinis „La Strada", genauso wie bizarre religiöse Traumvisionen, wie sie wohl nur einem italienischen Zeichner schamlos aus der Feder fließen können.

Kai Pfeiffer

Lorenzo Mattotti/Claudio Piersanti: „Stigmata", Edition Kunst der Comics 2000, 192 Seiten, 29,80 DM

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