Ausgabe 12 - 2000 berliner stadtzeitung
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Zehn Finger sollt ihr haben

Jochen Schmidt erzählt den Alltag aus der Schönhauser Allee und dem Oderbruch

Jürgen Reip, ein erfolgloser Schriftsteller, regt sich über den Erfolg des Berlin-Romans „Datsche, demnächst" von Jule Lehmann auf: „Das ganze Drumherum ist doch nur Kulisse, was weiß sie von der Frankfurter Allee? Warum müssen ihre Verena-Marias ausgerechnet diese Straße herunterrauschen? Und alles, was ihnen dazu einfällt, ist, dass die Häuser gewaltsam, aber irgendwie auch schön auf sie wirken." ­ „Na und, sie muss doch nicht da geboren sein, um darüber zu schreiben." ­ „Aber sie interessiert sich überhaupt nicht dafür!"

Die Hauptfigur Jürgen Reip ist das Alter Ego des Autors Jochen Schmidt, und das verhasste Buch ist unschwer als Judith Hermanns „Sommerhaus, später" zu erkennen. „Wisst ihr, was das schlimmste ist", lässt Jochen Schmidt seinen Jürgen Reip fragen, „dass es, sollte ich irgendwann einmal in die Gänge kommen mit meinem Schreiben, unweigerlich heißen wird: Jule Lehmann hat das Erzählen wieder möglich gemacht. Jetzt tauchen in ihrem Fahrwasser neue Autorenhoffnungen auf. Man könnte schon von einer Lehmann-Schule sprechen. Das ist der neue Sound, und er kommt aus der Hauptstadt, von dort, wo sich die Kreativen eine kleine Oase geschaffen haben, vom legendären Prenzlauer Berg."

Diese Schreckensvision aus der Erzählung „Seltsamer Schwebezustand" ist für Jochen Schmidt mittlerweile eingetreten. Nach dem Erscheinen seines Buchs „Triumphgemüse" wird er mit Alexa Hennig von Lange, Tanja Dückers, Tim Staffel oder eben Judith Hermann in einem Atemzug genannt. Wer allerdings Schmidts Geschichten gelesen hat, weiß, wie unrecht man ihm damit tut und wie sehr er darunter leiden muss. Denn Jochen Schmidt interessiert sich nicht nur für seine Schauplätze, er kennt sie. Die Kneipe, in der Jürgen Reip immer ein kleines Jever bestellt und die Kellnerin Mariposa anhimmelt, nennt er „Spengler". Wenn man sich in Prenzlauer Berg auskennt, kann man dieses Pseudonym genauso schnell entschlüsseln wie „Schlafzimmer" („wo die Studenten unter sich die Zukunft des Landes aufteilen") oder „Simone de Beauvoir". Nicht nur durch die Authentizität der Orte gewinnen die Geschichten Wahrhaftigkeit. Jochen Schmidt bauscht nichts auf, er beschreibt die Alltäglichkeit des Lebens eines jungen Mannes, den andere wohl einen Loser nennen würden, einen Träumer, der über einen jahrelang in einem Baum hängenden Hula-Hoop-Reifen sinniert oder Klingelschilder nach bekannten Namen absucht.

Mit „P-Berg-Szene-Kult" hat das überhaupt nichts zu tun. Dafür sorgt auch, dass der andere Teil der Geschichten im gänzlich kult-unverdächtigen Oderbruch spielt. Schmidt erzählt vom einarmigen Bastler Tatziet, der die Welt nicht mehr versteht, oder vom alten Bauer Harnusch, der so elegant mähen konnte, dass sogar der Tod ihm seine Sense überlässt ­ Geschichten, die so schöne Titel tragen wie „Harnusch mäht als wärs ein Tanz", „Chaussee Enthusiastow" oder „Es ist, was es ist, und das nicht zu knapp". Als einer unter den Lesenden der „Chaussee der Enthusiasten" nimmt Jochen Schmidt den Schwur ernst, sich „für jedes Wortspiel gegenseitig einen Finger abzuhacken". Er hat noch alle zehn. Und im „Spengler" gibt es tatsächlich Jever.

Jens Sethmann

Jochen Schmidt, Triumphgemüse, Verlag C.H. Beck, München 2000, 248 Seiten, 34 DM

„Chaussee der Enthusiasten" jeden Donnerstag ab 21 Uhr in der „Tagung", Wühlischstr. 29

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