Ausgabe 12 - 2000 berliner stadtzeitung
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Gefrorene Zeit

In ihrem Roman „Moskauer Eis" hat Annett Gröschner die DDR auf Eis gelegt

Eine junge Frau erhält auf dem Magdeburger Hauptbahnhof vor einem mobilen Fahrkartenschalter in der Haupthalle einen Heiratsantrag. Klaus rutscht auf Knien heran, einen riesigen Rosenstrauß darbietend. Barbara will den Zug nach Berlin nehmen, braucht nur „einmal Berlin, einfache Fahrt" zu sagen. Die Welt würde ihr zu Füßen liegen. Sie entscheidet anders. „Barbara ließ sich von Klaus den Koffer abnehmen, legte sich den Rosenstrauß wie einen Säugling über den linken Arm und verließ den Bahnhof." Am nächsten Tag werden die Sektorengrenzen in Berlin geschlossen und Kampfgruppen ziehen Stacheldraht entlang der Grenze zu den Westsektoren. Barbara und Klaus, der Kältetechnikingenieur, heiraten und leben in Magdeburg. In der Silvesternacht 1963/64 kommt die Heldin und Ich-Erzählerin des Buches, Annja Kobe zur Welt. Und wie die gleichaltrige Annett Gröschner wächst Annja in Magdeburg auf einer Insel mitten in der Elbe auf.

Das Kind orientiert sich an den Erwachsenen und ihren Verwirrungen in der sozialistischen Lebensgemeinschaft der DDR. Sie erlebt mit, wie eines Tages Großmutters Freundin Olga aus der Schweiz zu Besuch kommt. Der Großvater muss sich unangenehme Fragen gefallen lassen, zum Beispiel warum er in der Ostzone geblieben sei, mit seinen Fähigkeiten (als besonders geschickter Organisator alles Notwendigsten und als berüchtigter Frauenliebhaber). Annja staunt und sieht mit an, wie der Großvater die „großzügigen" Geschenke der Olga einfach zur Mülltonne zerrt und wegwirft, zwei abgetragene Anzüge, ein altmodisches Rüschenkleid und einen uralten Fotoapparat, der für Annja gedacht war. Olga reist sofort ab. „Zwei Wochen später bekam Großmutter einen Brief ohne Absender. ... ´Ganz schön schwer', sagte Großmutter und wog den Brief in der Hand, ´der ist bestimmt von Olga.' Sie nahm ein Messer aus dem Besteckkasten und öffnete ihn. Sie wollte den Brief herausziehen, aber es war kein Papier darin. Sie griff in etwas festes Braunes, und als sie es herausholte, war es ein getrocknetes und breitgedrücktes Stück Scheiße. Wortlos steckte sie es in den Umschlag und schmiss ihn in den Mülleimer."

Die DDR hat eine Chronistin gefunden

Annett Gröschner hat ihren Roman in verschiedenen Zeitebenen angesiedelt, sie erzählt rückblickend die Kindheit ihrer Heldin, episodenhafte Lebenserinnerungen der Familie eines Kälteingenieurs, die bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückreichen und die Gegenwart der frühen neunziger Jahre. Im Dezember 1991 verbringt Annja Kobe einige Wochen in der Wohnung ihrer Großeltern bei der sterbenden Großmutter ­ mit dem eingefrorenen Vater, den sie in der eigenen Kühltruhe vorfindet. Sie sucht das Rätsel seiner Einfrierung zu lösen, denn der Vater bleibt ohne Energiezufuhr dauerhaft tiefgefroren. Auf der Jagd nach Hinweisen gerät Annja zunehmend in die Brandung der Vergangenheit. Wie Annett Gröschner diese Szenen komponiert, zeugt von enormer Kunstfertigkeit. Virtuos kreiert sie Geschichten, die ineinander überfließen, sich ergänzen und doch separat existieren könnten. Im Detail entdeckt man bei Gröschner das Allgemeine. Die DDR hat eine Chronistin gefunden, die Segmente der vergangenen Zeit auf Eis legt. Jetzt kann man durch die kalte Glasur spähen und das Produkt bestaunen, eine Welt von Begriffen und Bildern, Fetzen von Verordnungen und Beschlüssen, aber auch Farben, Gerüche und Geschmäcker lassen sich nun beliebig auftauen und zu einem Puzzle zusammenfügen!

Dass Annett Gröschner es sehr genau nimmt mit ihren Recherchen, hat sie in ihren vorangegangenen Publikationen bewiesen, die sich räumlich zwischen dem Prenzlauer Berg und Magdeburg bewegen und die Geschichte einzelner Menschen, Straßen, Plätze, Gangs und Fußballvereine umreißen. Auffallend an ihrem Debütroman ist Gröschners Ton, der ironisch, ja sarkastisch das bricht, was sie schildert. Die spöttische Distanz nimmt der kühl beobachtenden Sprache jede Möglichkeit der. Ein Tropf ist, wer hinter Gröschners Zeilen Ostalgie wittert. Selten konnte sich ein Autor so frei schreiben von seiner konkreten Herkunft, die zeitlich noch nahe liegt. Lehrreich für den Alltagsgebrauch des Lesers sind die kühltechnischen Abrisse, selbst die knappen, einem Lexikon der Kältetechnik von 1950 entnommenen Kapitelüberschriften vermitteln Anregungen. Und da bei Annett Gröschner hinter jedem Wort ein Gedanke steckt, nimmt es nicht Wunder, über dem letzten Kapitel folgenden Eintrag zu finden:

„Zwiebel ­ Gefrierverfahren: Zum Gefrieren ungeeignet"

Von A bis Z hat sie ihre und die Vorwelt des DDR Menschen in den ihr bekannten Facetten durchforstet und die Essenz aufgeschrieben. Annett Gröschner bewahrt einen der trostlosen Wahltage der Kandidaten der Nationalen Front im eigenen Kapitel auf, sie lässt ihre Heldin mit dem Vater und der „fliegenden Urne" über die Insel im Herzen Magdeburgs wandeln, um auch die letzte Stimme zu erhaschen. Bei den Langhaarigen im letzten Hinterhof, wo immer die Partys gefeiert werden, sind quiekende Geräusche zu hören. „Es dauerte eine Weile, ehe jemand zur Tür kam und sie mit einem Ruck aufriss. Vor uns stand ein nackter Mann, dem die Haare bis auf die Brust fielen. Da ich zu klein war, um ihm ins Gesicht zu sehen, fiel mir zuerst sein Schwanz auf, der mir riesig zu sein schien und dessen obere, bläulich schimmernde Spitze fast bis zum Bauchnabel reichte, was ich so noch nie gesehen hatte... ´Da staunste, was', sagte der Mann zu mir, und ich merkte, wie ich sehr rot wurde. ´Wir vögeln nämlich gerade. Und was wollt ihr?' Mit belegter Stimme sagte Vater: ´Mein Name ist Kobe, ich komme aus dem Wahlbüro, heute war Kommunalwahl.' Ich sah, wie der Schwanz langsam in sich zusammensackte und klein und schrumpelig wurde, bis er herunterhing wie der meines Vaters, wenn er morgens aus dem Bad kam..."

„Danke für Ihren Besuch", sagte er, „aber wir kaufen nichts."

Anne Hahn

Annett Gröschner, Moskauer Eis, Roman, Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig, 2000, 288 Seiten, 34 DM

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