Ausgabe 12 - 2000 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Hüpfen im weißen Anzug

Volksbühne I: Castorf hat Dostojewskis Dämonen in den Fernseher gepackt

An dieser Stelle einmal ein Fernsehprogrammhinweis. Aber für ARTE. Dort zeigt man öfter fürs Fernsehen gemachte Adaptionen von Bühnenstücken. Nun kommt aus Berlin nach Sasha Waltz´ „Allee der Kosmonauten" ein Volksbühnenstück zu dieser Ehre. Und das sozusagen in der zweiten Potenz. Der Film zum Stück zum Buch „Dämonen". Frank Castorf hat selbst Regie geführt und das Ensemble im Frühsommer in die mecklenburgische Provinz mitgenommen, einschließlich Glaskastenflachbau und Untiefen-Swimmingpool der Theaterinszenierung. Beides steht verloren inmitten von grün wogenden Getreidefeldern. Meistens scheint die Sonne, sogar im Sumpf.

Diese wogenden Felder sieht man auch zu Beginn. Darüber liegt Gelächter. Ein Schwenk zeigt die Gesellschaft, die in einem großen amerikanischen Auto, einem Chevy, anreist. Das Häuschen blickt mit der großen Fensterfront auf Grün. Einmal sieht man es von oben. Auf dem Dach steht ironisch „No Fear".

Denn die Figuren kämpfen gegen ihre Angst vor Entdeckung ihrer Machenschaften, vor Zurückweisung ihrer Gefühle, vor Konventionen, sich selbst, dem Untergang, dem Leben. Dostojewskis Roman ist ein Panorama der russischen Oberschicht zum Ende des 19. Jahrhunderts. Diese Schicht, besonders der Adel, hat ihre Vitalität eingebüßt. Man ist gelangweilt und anfällig oder flüchtet sich in die Vergangenheit, wie der lächerliche alte Werchowenski. Die Jungen führen ein unstetes ausschweifendes Leben und sind letzten Endes genauso gelangweilt. Für alle Tendenzen gibt es im Roman Protagonisten. Man kann sich nicht leiden und bastelt, wie die jungen Nihilisten um Stawrogin, am eigenen Untergang.

Wladimir Nabokow hat in einem Essay über Dostojewski behauptet, dass dieser heutzutage ein hervorragender Drehbuchautor wäre. Nicht umsonst gibt es so viele Verfilmungen seiner Romane. Diese Behauptung scheint sich auch hier zu bewahrheiten. In der Bühnenversion war oft vor lauter Gezeter und Gehampel von der Handlung nicht viel zu erkennen. Der Film zeigt mehr davon, schon allein dadurch, daß der Zuschauer mitten im Geschehen ist und nicht auf einen Guckkasten schaut. Durch das Aufbrechen des Bühnentableaus können auch leise Töne angeschlagen werden, was die Geschichte unbedingt braucht. Fast scheint es, als liebe Castorf den Stoff. Dass er seine Schauspieler liebt, ist nebenbei auch zu merken.

Im Film funktioniert das piefige 60er-Jahre-Interiör, die weißen Anzüge. Möglicherweise tragen so etwas die Darsteller lateinamerikanischer Telenovelas. Die Herrschaften sind in der Sommerfrische, Tschechow läßt grüßen. Schauplatz ist nicht nur der Bungalow, sondern es gibt eine Strohscheune für konspirative Treffen, das Duell wird im Sumpf ausgetragen. Man hängt herum, läuft mit Sonnenschirmen über die Felder. Ästhetisch erinnert das Ganze an verwackelte Dogma-Filme. Eine Assoziation zu „Idioten" scheint nicht allzuweit hergeholt. Die „Akte" sind durch im voraus kommentierende Zwischentitel voneinander getrennt. Bisweilen sprechen die Personen direkt zum Zuschauer; meistens sind das ernste Dinge. Selbstironisch wird das einmal durchbrochen, als der junge Werchowenski sich fragt, ob er sich vielleicht in einem „russischen Monumentalfilm der 60er Jahre italienischer Prägung und deutscher Mentalität" befindet, um dann über eine eventuelle Notwendigkeit von Diktatur nachzudenken. Dabei versucht Stawrogin (Martin Wuttke) ihn nach hinten wegzuziehen und vom Reden abzuhalten. Im Anschluß hüpfen beide in ihren weißen Anzügen über das Feld. Ein wenig Kitsch muß sein. Die bühnenüblichen Slapstick-Einlagen, weichen Ironie und Komik, Albernheiten eingeschlossen. Eine wohltuende Prise Trash dazu, etwas Gesang, das bringt einen gut über die genau drei Stunden Spieldauer. Ausharren lohnt sich.

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Dämonen, Regie Frank Castorf, Darsteller: Henry Hübchen, Martin Wuttke, Herbert Fritsch, Sophie Rois, am 12. Dezember 2000, 21.35 h auf ARTE; weitere Ausstrahlungen in Planung

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