Ausgabe 12 - 2000 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Das Und-Jahrhundert beginnt in Friedrichshain

Am Boxhagener Platz wird Kultur gemanagt ­ Die Agentur Spielfeld sucht Künstler für Ladenlokale

Oberflächlich betrachtet ist Thomas Fritz Wagner vor allem das: herzlich und wirklich unermüdlich, wenn es ums Zubereiten von Milchkaffee geht. Doch der Schein trügt. Oberflächen als solche, abweisende zumal, sind Wagner ein Graus, sie verwandeln ihn schon mal in einen Berserker. Eine Obsession, die seine Frau und Komplizin Carmen Reiz gerne mit folgender Geschichte erklärt: Da hatte nämlich der junge Skulpteur Wagner stundenlang die Chromoberfläche einer selbstkonstruierten Lampe poliert, doch plötzlich ging ihm ein Licht auf, er zerstörte den Lack und brach die glatte Oberfläche auf. Schillernde Strukturen kamen zum Vorschein. Eine stilbildende Tat. Und ein recht netter Vergleich für das Projekt der beiden Friedrichshainer Kulturwerker: Ihre Agentur „Spielfeld" wurde von den Quartiersmanagern am Boxhagener Platz beauftragt, Kultur in den Kiez zu bringen. Vorerst zehn leerstehende Läden im Gebiet zwischen Gärtner- und Weichselstraße werden für das Jahr 2001 an stadtteilbezogene Kulturprojekte vergeben, voraussichtlich für subventionierte 4 DM pro Quadratmeter. Nun managen Wagner und Reiz jenen Prozess, den ihre Partner „Belebung des öffentlichen Raumes" nennen ­ für Wagner heißt das: Die Rollläden hochziehen, Licht hereinlassen, Räume begehbar machen. „Das ist es, was Künstler machen: sie reißen Oberflächen auf und öffnen den Blick für etwas anderes." Durchgelüftet haben die beiden zuletzt am Ostbahnhof: Vor drei Jahren starteten sie mit einigen Mitstreitern die „Maria". Jetzt also das Kulturprojekt am „Boxi", sinnfällig auf den Namen „Boxion" getauft.

Weniger offen gestaltete sich wohl das Vergabeverfahren des Quartiersmanagements. „Natürlich müssen die Läden aufgemacht werden", meint Michael Breitkopf von „Projekt Friedrichshain", aber er vermisst Transparenz und die Diskussionsfähigkeit der Projekte. Den Brückenschlag zwischen den kulturellen Initiativen, Künstlern, Behörden und Anwohnern zu schaffen ist nun Aufgabe von Spielfeld. Das vermittelt schon die Sprache der beiden: Sie wollen kommunizieren, den Austausch fördern, Gemeinsamkeit schaffen. „Ich habe kein Bock auf einen Pinselquäler, der die Rollläden runtermacht und dann seine Bilder malt", sagt Wagner, und Carmen Reiz lobt bereits eingegangene Bewerber wie den Literatursalon, die Videolounge-Betreiber oder auch die AIDS-Initiative, die mit Partys Spenden sammeln will. Wer letztlich von den 135000 DM aus dem Fonds „Soziale Stadt" profitieren wird, ist noch offen, Bewerbungen sollten möglichst bis zum Jahreswechsel eingehen. Spielfeld sieht sich nicht als Kunstbewerter – wichtig ist die Bereitschaft zur Beteiligung: an Stadtteilfesten, an Aktionen. Für manchen kann das Projekt finanzielle Starthilfe sein, etwa für Kunstgewerbe oder Modedesigner, doch Kommerz ist kein Muss. Eine Wohnzimmer-Bar ist möglich, die Simon-Dach-Werdung Restfriedrichshains, sagen sie, planen sie nicht.

Über das „Maria" sind sie nach Friedrichshain gekommen, zurückgelassen haben sie das alte Kreuzberg, für Carmen Reiz in manchem das Anti-Modell einer Kneipen- und Künstlerszene, wo alle „um ein Uhr besoffen und bekifft sind." Zuletzt hat Thomas Wagner mit Künstlerkollegen wie Herr M. oder Peter Schedler an der Frankfurter Allee Leerstand in Kunstraum umwandeln dürfen. Schedler, der auch schon mal einen Zigarrenabend als Happening veranstaltet, und den Reiz gerne als multiplen Künstler bezeichnet, ist für sie ein Epigone des „Und-Jahrhunderts", das, glaubt man dem Maler Kandinski, soeben heraufdämmert: Alles vermischt sich, alles wird möglich. Und vielleicht ja auch das Kunsthaus, das Wagner und Reiz für 2002 planen.

kv

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