Ausgabe 12 - 2000 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Zwischen der Stadt

„Opfer des Scharlachs/deckt dieses Grab"
(Grabinschrift, Dorotheenstädtischer Friedhof)

Ortsbewehung, Mitte November. Ich stehe an für die erste Lunge Berlin. In Dachhöhe, ruhig am offenen Fenster. Weddingluft weht mir entgegen, Tiergartenluft, Mitteluft, Moabiter Staub, ein Hauch Bellevue möglicherweise, über Eisenbahnanlagen gezogen, rostig gezogen. Prenzlauer Berg unspürbar: unsichtbar verweht hinter dem Humboldthain.

Stillleben am oberen Ende des Kerns der Stadt. Wöhlertstraße. Einzugskreis Mitte. Oder Restmitte, oder Randerscheinung. Hier war der herrschende Staat eine Enklave im umzäunten. Und ist immer noch Bastion einer Zurückgelassenheit, Nordkap am jetzt für Hundefreigang genutzten Mauerstreifen. Was hier die Landschaft bildet, ist Gegenteil von Zentrum. Ist Teilstadt, Stiefstadt, Horizont bloß für die schnelleren Austragungsstätten des Lebens.

Ein zerfressener Speckgürtel, specklos. Meist fossilbraun noch die Bauten. Manchmal mit abfallenden Fassaden, unter denen man den Häusern ins Fleisch schauen kann. Und hinter Gardinen inventarisierte Existenzen ins kaum Veränderte blickend, oft alleingestellt, noch größere Wunden bildend als die der Gebäude. Profis im Zuendewarten des Lebens.

Hier drehen die Straßenbahnen ab, geben territoriumsmüde die Strecke auf. Hier bricht die Stadt aus in weitere Stadt. Hier ist das Umland Inland, gesteppt über brachem Sand, Ziegelstaub. Abgezogene Häuser, rasierte Keller. Brandmarkenflecke eines fernen Krieges, über denen das Gerüst eines Herbstregens sich bemüht, weiteren Halt zu nehmen. Auf der größten der Narben, einst der Weltjugend gewidmet, zerhacken Golfschläger die Luft.

Strichweise gibt Unkraut gestandene Lücken frei. Wie Zahnstümpfe eines verfaulten Systems stemmen sich Mauerfragmente in Bedeutung. Die Mauer. Jetzt abgetragen, verfahren, irgendwohin.

Über die Invalidenstraße vielleicht. Die Veteranenstraße. Straßen der Gebrechlichkeit, wasserbeinig über die Keller hinaus.

Der Gang führt über mit den Jahren verbogenen Asphalt, hin und wieder das darunter liegende Pflaster zeigend wie ein krankes Gebiss. Die Stadt als Erosion in loser Folge. Die baut an den Ruinen der Enkel.

Man flaniert mit Abrissbirnen. Urbanität gleich Wille und Vollstreckung einer Gesichtsabtragung.

Der Großstadttext schreibt sich aus den lautesten Moden.

Berlin, die Stadt der verschränkten Areale. Geografie mit unsicheren Zeichen. „Mitte" steht Gelb auf Grün auf ein Schild geschrieben: und ist Friedrichstadt. Oder Dorotheenstadt. Oder Übergang in Hinterzimmer ohne Geschichte. Immer wieder die stille Größe grauer Fassaden. Gesetzt aus wilhelminischer Grandezza oder den geduckten Verlegenheiten eines ostdeutschen Staates.

Französischer Friedhof, Charité, Scheunenviertel und Monbijoupark. Das Schlagwerk der Hackeschen Höfe. In den Nachtschatten die Huren Europas beim Zählen der Sprachen: Erinyenburger Straße. Nicht ein Staat nur stellt das Gewebe der Stadt.

Die Zeit liegt über Kreuz hier. Die Architekturen schief. Am Ende liegen die Gräbergärten. Grashöfe der Vergangenheit. Hugenotten im Lehm, Preußen, Brecht und Scharnhorst.

Und auf jeden Tag der Geschichte kommt ein
Tourist. Mit mehr Faltplan als wirklichem Raum. Den man ausführt im Kleinbild. Im Glauben, noch jeder Ort ließe sich zwischen neun und dreizehn Zentimetern beweisen. ­

Zurück in den Norden der Mitte, das Zwischen-der-Stadt. Störungsfrei bröckeln Balkone ihre Böden in die Schritte der Passanten. Unberührt von der Lust auf Fotografie, fernab des metropolitanen Lärmaustauschs.

Der nächste Hauptweg hier heißt Chaussee. Der Name deutet auf Land hin. „Chausseen, Chausseen,/ Kreuzwege der Flucht" schrieb Peter Huchel. Der Zustand des Losen scheint befestigt. Von allen Seiten fegt der Wind durch.

Ron Winkler

© scheinschlag 2001
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