Ausgabe 11 - 2000berliner stadtzeitung
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Nur ein Viertel

Hadernde Ostdeutsche aus Mangel an Einsicht?
Eine Erklärung

Von Daniela Dahn

Zwar... aber, zwar... aber... So klingt das Bilanzlied. Zwar war das Zementwerk in Rüdersdorf bei Berlin einst in der Umgebung eine ungeliebte Dreckschleuder, aber mehrere Tausend fanden hier Arbeit. Heute prangt vom turmhohen, stillgelegten Fabrikgebäude auf dem zum Industriemuseum gewandelten Gelände weithin sichtbar eine Losung - die Großbuchstaben BRD und dahinter der Anhang igung. „BRDigung - nein Danke", lesen die Besucher. Vielleicht deshalb legte der Berliner Senat den Gymnasien der Stadt nahe, dass es unerwünscht sei, weiterhin die Abkürzung BRD zu benutzen. Das sei DDR-Sprachgebrauch. Man möge die Abkürzung aussprechen oder „BR Deutschland" sagen und schreiben. (Dies war unklug vom Senat, denn natürlich haben sich die Schüler, die davon erzählten, vorgenommen, ab sofort nur noch BRD zu sagen.)

Zwar sollen die Führungspositionen in der „BR Deutschland" inzwischen schon zu drei Prozent von Ostdeutschen besetzt sein, aber Wünsche zur Sprachregelung dürfen sie deshalb noch lange nicht anmelden. So werden bei Übungen der Bundeswehr die Attacken noch immer gegen die Rotländer geführt (was offenbar alle für normal halten). Zwar werden die alten Feindbilder gepflegt, aber die Kämpfer sind müde geworden.

Widersprüchliche Bilanz

Zu den wichtigsten Forderungen der DDR-Bürger aus der Wendezeit gehört das Recht auf freie Wahlen. Bei den letzten Kommunalwahlen in Thüringen betrug die Wahlbeteiligung nur 45 Prozent. Diese Verhalten der Ostdeutschen ist enttäuschend. Man kann es kritisieren, aber hilfreicher scheint, es erklären zu wollen.

Nach 10 Jahren staatlicher Einheit ist die Bilanz durchaus widersprüchlich. Mehr als die Hälfte der Befragten meint, dass ihre materielle Situation sich im Vergleich zur DDR verbessert hat. Darunter viele Rentner. Vor allem bezieht sich das auf den Wohnkomfort, auf Konsum- und Reisemöglichkeiten. Für westliche Beobachter merkwürdigerweise stieg die Zufriedenheit mit Politik und Gesellschaft nicht proportional. Das hängt damit zusammen, das sich der absolute Abstand zum Lebensstandard der Westdeutschen vergrößert hat. Eine Zwei-Drittel-Mehrheit ist deshalb erheblich unzufrieden mit der gesamtwirtschaftlichen Situation, aber auch mit den Chancen demokratischer Mitgestaltung, mit der Verfassungswirklichkeit - kurzum mit dem marktwirtschaftlichen Rechtsstaat.

Doch ist dies keine generelle Demokratiefeindlichkeit und Ablehnung marktwirtschaftlicher Steuerung. Es ist eine Kritik daran, wie marktradikal und lobbyistisch das neue System in den Osten übertragen wurde, so dass ohnehin systemimmanente Ungerechtigkeiten hier noch zugespitzt wurden. Gegenüber den Defiziten dieser geldfixierten bundesdeutschen Variante von Demokratie sind die Ostdeutschen wach, ihre Vorstellungen von Grundrechten sind umfassender. Die neuen Chancen durch den Hinzugewinn von klassischen, freiheitlichen Rechten werden durchweg gewürdigt, der weitgehende Verlust der modernen, sozialen Grundrechte aber ist vielen ein zu hoher Preis. Eine Verfassung soll den einzelnen vor dem Staat schützen. Das schließt aber nicht aus, das der Staat auch den einzelnen schützt. Erst die Dreieinigkeit ist für viele Ostdeutsche die ganze Freiheit: die Freiheit vom Staat (also die Abwehrrechte), die Freiheit im Staat (die Partizipationsrechte) und die Freiheit durch den Staat (die sozialen Menschenrechte). Auf bestimmten Gebieten jedoch hat der Gesetzgeber in den Augen vieler Ostdeutscher ihre Freiheitsrechte eingeschränkt. Denn das wichtigste Freiheitsrecht in der Marktwirtschaft ist das Eigentum. Ludwig Erhardt kannte die Spielregeln seines Systems: „Nur Eigentum gewährleistet persönliche Sicherheit und geistige Unabhängigkeit." Die Ostdeutschen indes haben angesichts ihres nicht nur entschädigungslos, sondern sogar mit Schaden, nämlich mit Schulden, geschluckten Volkseigentums die größte Enteignung erleben müssen, die der Kapitalismus je sah. Dass dieses Volksvermögen nicht ganz wertlos gewesen sein kann, zeigt schon das Faktum, dass die Deutsche Bank vor zehn Jahren das beste Geschäftsjahr in ihrer hundertjährigen Geschichte verbuchte. Noch heute sind die vereinigungsbedingten Mehreinnahmen im Westen durch die Vereinnahmung der östlichen Märkte höher als der sogenannte Transfer für den Osten.

Offene Vermögensfragen

Die Privatisierung des sozialistischen Eigentums war der Hauptinhalt der Transformation. Zwar ist von Privatisierung im Grundgesetz nicht ausdrücklich die Rede, von Sozialisierung durch Überführung in Gemeineigentum aber sehr wohl. Die Mehrheit der Ostdeutschen sehen in diesem Punkt das letzte Wort nicht gesprochen, ganz im Sinne eines frühen Urteils des Bundesverfasssungsgerichtes vom Juli 1954. Das hatte festgestellt: „Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keinesfalls aber die allein mögliche."

Das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen gilt nur für „im Beitrittsgebiet gelegenes Vermögen". Zwar sind den meisten westdeutschen Alteigentümern die Anmeldefristen mehrfach verlängert worden, aber die wenigen östlichen Alteigentümer von Westgrundstücken erfuhren, dass ihre Ansprüche schon vor Jahren abgelaufen seien. Der Gesetzgeber hat es ermöglicht, dass in Ostdeutschland über zwei Millionen Anträge auf Rückgabe von Immobilien bearbeitet werden konnten, in Westdeutschland aber kein einziger. Nicht einmal auf Entschädigung. So offen durften die „offenen Vermögensfragen" nicht sein.

Dieses Verfahren hat das Gefälle zwischen Ost- und Westeigentümern zementiert. Die heutigen Differenzen lassen sich daher allein aus der Kluft des Lebensstandards zwischen der DDR und der Bundesrepublik nicht erklären. Treuhand und Vermögensämter verteilten Immobilien und Betriebe unter Konditionen, von denen die Ostdeutschen weitgehend ausgeschlossen waren. Bei der Vergabe des Bodenreformlandes, wo Alteigentümer ebenfalls begünstigt werden, dauert der Prozess heute fort. Bei der Währungsunion büßten die Ostdeutschen etwa ein Drittel ihrer Ersparnisse ein. Doch die in Aussicht gestellten Anteilsscheine am Volksvermögen konnten nicht vergeben werden. Und schließlich tragen auch die niederen Löhne im Osten und der Umstand, dass die meisten besser bezahlten Chefposten weiterhin von Westdeutschen besetzt sind, zur dauerhaften Aufrechterhaltung der Unterschiede bei.

Wenn das jetzige Wachstumstempo auf beiden Seiten beibehalten wird, so haben Fachleute unlängst berechnet, wird es noch 80 Jahre dauern, bis die Lebensverhältnisse vollständig angeglichen sind. Zwar sind die Ostdeutschen manche Zumutung gewohnt. Aber für eine Demokratie und Marktwirtschaft, in der man sie von deren Voraussetzungen, nämlich Arbeit und Eigentum, weitgehend ausschließt, wird man sie nicht begeistern können. Kein Wunder, dass die Abwanderung wieder steigt.

Wenn die Formel von Ludwig Erhardt stimmt, so haben die Ostdeutschen, da sie im Vergleich zu den Westdeutschen nur über ein Viertel des Eigentums verfügen, auch nur ein Viertel an persönlicher Sicherheit und geistiger Unabhängigkeit. Das mag manche Verhaltensweise erklären, die mehr zu Zweifeln als zur Einheit tendiert. Genauso viele Menschen, wie vor zehn Jahren die Einheit wollten, sehen heute die Wirtschaft- und Sozialordnung der Bundesrepublik als ungerecht an. BRDigung - nein Danke? Zur Bilanz gehört auf beiden Seiten die Einsicht, dass die Einheit eine feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen war.

Daniela Dahn ist freie Autorin (u.a. „Prenzlauer Berg Tour", „Westwärts und nicht vergessen")

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