Ausgabe 11 - 2000berliner stadtzeitung
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Egon lebt noch

10 Jahre danach
Von Helmut Höge

Während der sogenannten Wende - zwischen den November-Unruhen 89 und den Märzwahlen 90 - arbeiteten meine Freundin Sabine Vogel und ich auf der Rindermast der LPG „Florian Geyer" in Saarmund.

Für einen viel zu kurzen Moment war alles möglich. „Unsere" LPG bekam einen Stand auf der „Grünen Woche". Im Kreuzberger Café „Jenseits" trafen sich die Autonomen und diskutierten mit der Betriebskampfgruppe von „Interflug": Man sah sich bereits gemeinsam durch die Luft zu irgendwelchen internationalen Treffen düsen. Die Journalistin Regine Walter-Lehmann unternahm mit einem Stasimann, der auf ihrem „Erbe": einem Grundstück in Priort saß, lange Ausflüge durch die Mark. Es entstanden jede Menge neue Zeitungen.

Aber dann ging es auch schon mit der Besitzstandswahrung bzw. -mehrung los. Gleichzeitig setzte ein wahrer Existenzgründer-Wahn ein, mit der entsprechenden Begleitforschung: „Neue Selbständige im Transformationsprozeß".

„Wer früher klar gekommen ist, kommt auch heute klar," so wurde ein ehemaliger Fähnrich der NVA - nunmehr Versicherungsmakler - zitiert. Und ein Ostberliner Müllmann sagte: „Eijentlich hat sich nischt verändert, außer det Jesellschaftssystem!" Es mehrten sich jedoch angeblich die „proletaroiden Kümmerexistenzen".

Aufgefüllte Einwegfeuerzeuge

Das brachte mich darauf, mal wieder bei meinem ehemaligen Kollegen Egon aus der Rinder-Brigade vorbeizuschauen. Bereits in der Wende hatte er in den Pausen im Frauenruheraum alle möglichen Existenzgründungsideen zur Diskussion gestellt. Das reichte von einem Imbißstand am Badesee bis zum Getränke- und Eisverkauf von seinem Wohnzimmerfenster aus. Egon wohnte im schlechtesten Haus der LPG, gleich neben der Schweinemast an der Dorfstraße, auf der so gut wie nie jemand vorbeikam. Immerhin besaß er ein großes Grundstück, auf dem er Blumen und Gemüse anbauen wollte, es glich jedoch noch einem Schrottplatz. Schon vor der Wende hatte Egon sich in diversen Nebenerwerben versucht: Autos repariert, Einwegfeuerzeuge wiederaufgefüllt und auf den Westmüll-Kippen des Kreises Betten und Kissen gesammelt, deren Feder-Inhalt er reinigte und weiterverkaufte. Bevor er wegen seiner angegriffenen Gesundheit zur LPG kam, hatte der gelernte Streckenarbeiter lange Jahre in Bahnhofsrestaurants gekellnert.

Nachdem all die halbherzigen Versuche, die LPG als Ganzes in die neue Marktwirtschaft „rüberzuretten", so gut wie gescheitert waren, gehörte Egon dann mit zu den ersten, die konkrete Schritte unternahmen, sich neue Erwerbsmöglichkeiten zu schaffen. So sammelte er z.B. allen Autoschrott in seinem Garten zusammen und versuchte anschließend, diese als „Ersatzteile" in der Potsdamer Fußgängerzone zu verkaufen. Das ganze war ein Minusgeschäft, doch Egon kam dabei die Idee, sich mit eigenem PKW als Auslieferer zu verdingen. Dazu brauchte er jedoch ein neues Auto - am besten einen Combi. In Potsdam eröffnete der erste Gebrauchtwagenmarkt. Egon kam enttäuscht zurück: „Der hat zwar alle Typen, der billigste kostete 9000 DM, aber wie ich den bezahlen soll, darüber macht der sich keenen Kopp!" Immer, wenn ich mal vorschlug, irgend etwas über unsere Routinearbeiten hinaus für die Rinder im Stall zu tun, sagte er: „Laß gut sein, darüber müssen die sich oben einen Kopp machen, wer das erledigen soll." Dennoch war er der Fleißigste und Pünktlichste in der Brigade. Aber die LPG-Leitung entließ ihn als ersten!

Reinigungskraft und Detektiv

Er konnte es zuerst gar nicht fassen. Dann begann er, mit seinem Auto die Umgebung abzuklappern. Schon bald gewann er Gefallen an diesen Ausflügen, sein Aktionsradius wurde immer größer. Schließlich nahm er in einem Steglitzer Hotel einen Job als Reinigungskraft an. Erst als er diese „West-Anstellung" wieder - wegen zu geringer Bezahlung - hinschmiß, sagte man ihm, daß das Kleingeld auf den Kissen sein Trinkgeld gewesen wäre: Er hatte es stets unangetastet gelassen, im Glauben, man wolle damit seine Ehrlichkeit testen. Danach fing er als Detektiv beim ersten Heimwerkermarkt in Teltow an. Wieder scheiterte er in gewisser Weise an seiner Ehrlichkeit: Er erwischte einen Familienvater mit acht PVC-Rohren. Der Mann ging in seiner Not zum West-Geschäftsführer und der ließ sich erweichen: Der Kunde sei noch nicht mit dem neuen Kassensystem vertraut gewesen. Egon empfand das als Ost-Schmähung - und wurde barsch. Am Ende verlor er seinen Job.

Sein Nachbar Ulli, ein ebenfalls von der LPG entlassener Rinderpfleger, hatte unterdessen eine Anstellung als Plakatwand-Aufsteller gefunden. Es gelang ihm, Egon in „seiner Firma" unterzubringen. Dann rissen in Sachsen-Anhalt Unbekannte mehrere Plakatwände um. Ihr Chef bezichtigte Ulli und Egon daraufhin der falschen Aufstellungsabrechnung. Sie kündigten und fingen bei der Konkurrenz an, die sie mit Polaroid-Kameras ausstattete. Damit gab es kein Vertun mehr. Aber dafür hatten sie bald das Rumfahren und ewige Imbiß-Essen satt. Egon träumte von einer Kneipe - und sammelte alles dafür Brauchbare unterwegs ein.

An diesem Punkt kam ich wieder ins Spiel: Die „Zeit" wollte ein Feature über Freiberufler im Osten haben. Ich präsentierte ihnen Egon als Kneipenwirt. Dazu mußte jedoch ein Foto her: Für 200 DM richtete Egon sein Gartenhäuschen als Gaststätte ein - und stellte sich für den Fotografen hinter die Theke. Schon bald stand er nur noch hinter seiner Theke. Es kam jedoch niemand mehr. Die Dorfkneipen-Wirtin, drei Häuser weiter, machte sich bereits über ihn - als Konkurrenten - lustig. Immerhin besuchte er nicht mehr die ehemalige LPG-Sauna in Saarmund, wo sich die „Einheitsverlierer" trafen, um über Ausländer und Rote Socken herzuziehen, sondern er fuhr ein paar Dörfer weiter. In eine schicke, neueröffnete „Privat-Sauna", in der die neuen Selbständigen schwitzten und über nichts anderes als Existenzgründungen,
-darlehen und -fördermittel redeten. Egon lernte dort einen Außendienst-Mitarbeiter des „Heideparks Soltau" kennen. Dieser besuchte ihn und bat, ein Werbeschild in seinem Garten aufstellen zu dürfen. Egon bekam dafür zwei Freikarten für den Heidepark - inklusive Hin- und Rückfahrt.

Rheumadecken und Billigwerkzeuge

Man wurde mit dem Bus von Potsdam aus abgeholt. Egon nahm seine Frau Anneliese mit, die arbeitslos war. Zuletzt hatte sie als Putzfrau in einem Agrarinstitut gearbeitet, das abgewickelt wurde. Die Fahrt nach Soltau war mit einer Verkaufsveranstaltung für Rheumadecken und Billigwerkzeuge verbunden. Egon erwarb einen Radiowecker - und gewann dazu eine weitere Busreise für zwei Personen: diesmal nach Spanien. Auf dieser Fahrt begann er sich zu langweilen und bat den Busfahrer, sich nützlich machen zu dürfen: Er servierte fortan im Bus Kaffee und belegte Brötchen. Dafür brauchte er selbst nichts zu zahlen. An der Costa del Sol langweilte er sich wieder - und half im Hotel-Frühstücksraum aus. Dort lernte er einige Ostfriesen kennen, die eine Werbeveranstaltung für ihr jährliches „Emder Matjesfest" organisierten. Einer lud Egon und seine Frau ein. Es war ein Palästinenser, der schon lange in Norddeutschland lebte. Er besaß ein Kapitänspatent und unternahm mit einem ehemaligen Krabbenkutter sogenannte „Butterfahrten", wobei er kurz Holland „anticken" mußte. Das interessierte Egon. Ein paar Monate später fuhr er nach Emden - ebenfalls mit dem Bus. Als er dort ankam, lag jedoch das Butterfahrten-Geschäft darnieder: Eine neue EU-Verordnung verbot alle Duty-Free-Angebote off-shore. Weil Egon jedoch oft mit seinem alten Saab auf „Schnäppchenjagd" bis an die Oder gefahren war, wußte er, daß die Polenmärkte dort boomten. Er fuhr mit dem Palästinenser hin. Anschließend konnten sie einen ostfriesischen Busunternehmer überreden, ein „Pilotprojekt" nach Polen zu starten. Egon war wieder für die Verpflegung unterwegs zuständig. Er kam kaum noch nach Hause. Anneliese wurde schon langsam sauer.

Und so schaute er sich nach einer neuen Arbeitsstelle in der Nähe um. Eine Speditionsfirma in Langerwisch stellte ihn als Beifahrer für ihre tägliche Thüringen-Tour ein - zu einem Hungerlohn. Als er sich einmal krankschreiben ließ, wurde er entlassen. Nachdenklich saß er vor seiner Gartenkneipe in der Sonne. Anneliese drängte ihn, sich arbeitslos zu melden. Er ging zum Arbeitsamt. Die verlangten erst einmal Nachweise für sämtliche Tätigkeiten ab der Wende - seit seiner LPG-Arbeit. Und dann bekam er von seinem Sachbearbeiter gesagt, wegen seiner vielen Jobwechsel sei er nun schwer vermittelbar. „Was für ein Beschiß," schimpfte Egon, „da raten sie einem immer, daß man sich selbst um einen Arbeitplatz kümmern soll, und wenn man das dann tut, muß man sich hinterher anhören, man hätte zu viel gearbeitet!"

Meine Nachwende-Freundin Dorothee Wenner und ich drehten unterdes einen Film über vier langzeitarbeitslose LPG-Mitarbeiter in der Prignitz. „Unser Held" darin, Günter Schinske, beschloß jedoch plötzlich im Sommer 1998 zu sterben. Und tat das dann auch. Geplant ist, in diesem Jahr noch, Egon in Saarmund endlich mal wieder zu besuchen. Angeblich soll ihm neuerdings seine Pumpe sehr zu schaffen machen.

Helmut Höge ist freier Publizist („Berliner Ökonomie") und schreibt u.a. für taz und „Die Zeit".

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