Ausgabe 11 - 2000berliner stadtzeitung
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And this is my way

Mein Weg zur neuen Mitte
Von Simone Hain

Mein tägliches Stück Berlin hat sich äußerlich wenig verändert. Von einigen sehr bezeichnenden „Implantaten" abgesehen. Ich wohne am Treptower Park und fahre über den Schlesischen Busch die Köpenicker Straße entlang „in die Stadt". An der Ampelkreuzung auf Höhe des Bethaniendammes eröffnet sich zu meiner nie versiegenden Freude das denkwürdigste Panorama von Berlin. Eine Rhapsodie in Grau und Blau mit schroffen Richtungs- und Helligkeitskontrasten. Oder kulinarisch ausgedrückt: Trümmerlandschaft an Himmel. Inmitten existenzbegründender Kleingewerbe zur Pflege der Reifen steht das kleine grüne Schild mit dem Hinweis „Mitte". Als sei der Krieg gerade gestern zu Ende gegangen, dominiert an diesem Eingangstor zur City die Brandwand eines einsam übriggebliebenen Hinterhauses, dessen Aufschrift den aktuellen Grenzverlauf beschreibt. Wie ein Ausrufezeichen bestätigt der Fernsehturm etwas weiter hinten im Bild: Nicht zwischen den Völkern! Das sieht hier eigentlich jeder Asylbewerber mit Krückstock. Hier ist Berlin toute le monde. Nicht unter und nicht über anderen Völkern. Denn es ist hier nicht kuscheliger als in Freetown oder Anuradhapura. An diesem Ort hat Berlin wahrhaft globale Koordinaten. Hier schlägt die Weltzeituhr die Stunde - und nicht am Alexanderplatz.

Klasse, dass sich meine monumentale Pforte zur Mitte allen planerischen Visionen zum Trotz so eindrucksvoll gehalten hat. Erinnere ich doch die Stadtforumssitzung, bei der die Planer die radiale Achse hinaus zum Adlergestell als Spitzenlage entdeckten. Die Köpenicker Straße, hieß es, werde der Schönhauser Allee als Einkaufs- und Flanierstraße schon bald den Rang ablaufen. Übrig geblieben ist von diesem überschwänglichen Entwicklungseifer - neben dem Abriss der halben Brückenstraße für das noch immer leer stehende HPP-Projekt - allein das DAZ. Mit jenem „Deutschen Architekturzentrum" meinten die Herren vom Fach sich selbst korporatistisch als erster Entwickler und Nutznießer zukünftiger Urbanität verwirklichen zu müssen. Sie wollten dabei sein, wenn die Gewerbeflächen entlang der Spree binnen kürzester Frist mit hochwertigen Nutzungen „vollaufen" würden. In Gedanken sahen sie die Bauherren schon mit Wassertaxen anlanden. Heute befindet sich das DAZ längst in der Abwicklung. Allerdings hat jener spekulative Fieberzacken vom Beginn der 90er tragische Folgen gehabt. Als nämlich seinerzeit ein - damals noch populärer - Stadtdenker die explosiv gewachsene Miete für sein Spreeblick-Domizil nicht mehr bezahlen konnte, flüchtete der sich notgedrungen ins Hauseigentum. Doch nicht genug, dass der Erschütterte umgehend die aktuelle Geografie der Stadt verlernte - der unfreiwillig deregulierte Kleinbürger geriet auch sonst außer Rand und Band. Wie weiland Dietrich Heßling, rief er uns zu: Liebet die Macht, die Euch beherrscht. Macht Euch ihr untertan. So pries er fortan das reinigende Fegefeuer des Marktes. Und machte einen tollen Plan, der die alte Mitte ähnlich aufzumischen vorschlug wie weiland Hassemers Stadtforum die liebe Köpenicker Straße.

Nun könnte mich ja beruhigen, dass sie nicht so fein geworden ist, wie sie gesponnen war - die ganze Gegend bis hinunter zum Schlesischen Busch: An jenem Ende der Innenstadt haben unterdes die Obdachlosen ein neues Domizil bekommen. Das Straßenstück bis zum U-Bahnhof ist ihr Revier. Sie gehen im Stadtbild nur an den Wochenenden unter, wenn sich die Bürgersteige am Museum der verbotenen Kunst in einen orientalischen Basar verwandeln. Allwöchentlich haben Berlins Immigranten hier ihr Stelldichein. Beim Trödelmarkt gibt es alles, was mittewärts in den Bauschutt fliegt. Hier kommt wieder, was die Neue Mitte verschmäht. Buchstäblich jede alte Schraube kriegt noch eine Chance. Weil es sich unter den Umständen solchen Volksbegängnisses nicht länger geheim halten ließ, hat schließlich auch der „Club der Visionäre" entlang des Lohmühlengrabens Satelliten bekommen. Was mal eine Partyadresse für jugoslawische Nostalgiker und Kriegsdienstverweigerer war, jener Schuppen direkt am Wasser, ist letzten Sommer zur angesagtesten Ausflugsgastronomie der Innenstädter expandiert. Erst auf dem Markt ein paar Fensterbeschläge gesichert und dann zur Entspannung eine Weinschorle und Fisch'n'Chips am Wasser, bis dass die Sonne singt. Wenn die letzten Händler noch zusammenpacken, stehen schon die ersten Konzertbesucher mit Pappschildern an der Straße: Suche noch zwei Karten. Spät abends lebt die Gegend von der „Arena", der ehemaligen Busreparaturhalle. Letztens gab es hier vierundzwanzig Stunden Shakespeare in Love and Crime. Da kamen die Außermittigen aus Pankow und Köpenick schon Tage vorher, um die besten Plätze und Überlebensstrategien zu checken.

Wir, die peripher-urbanen Connaisseure, bringen unsere erlebnishungrigen Gäste in der „Fabrik" unter, einem Hostel mitten im Wrangelkiez - jenem die staatstragenden Eliten massiv verstörenden Ort, an dem Berlin mit dem Rest der Welt per Du ist. Ein Stadtspaziergang beginnt mit Probefahren bei „FroschRad": Es ist lustig, in einer leeren Fabriketage kunstvoll um die gußeisernen Säulen zu kurven. Dann folgt ein Abstecher in die Eisenbahnhalle - toi, toi, toi, daß das Cuvrycenter doch nicht kommt! Die Wagenburg am Bethaniendamm und die „Köpi" sind allerdings nichts für Touristen, wo kämen wir sonst auch hin. Aber das tropenmedizinische Institut am Engelbecken. Auch so ein globaler Tentakel der Metropole. Professor Kupfer, der vormals die DDR-Außenhändler und Monteure auf Parasiten und tödlichen Viren untersuchte, residiert in Berlins ältestem Gewerkschaftshaus. Ein Stück weiter steht schon das nächste, von den Brüdern Taut errichtete Trade Union Building, das die ÖTV leider innen ganz und gar versaut hat. Die träumten noch von ihrer großen Zukunft in der Dienstleistungsgesellschaft und haben sich dabei bis zur Unkenntlichkeit ausgeweidet. Dabei sind doch gerade die Beamten der Hauptstadt - von BAT IIa an aufwärts - aufgefordert, sich endlich vom ÖTV- und Fürsorgestaat zu emanzipieren. Kauft Kinder, kauft, sagen die Aktiengesellschaft Innenstadt, die GSW und die Deutsche Post.

Die Gegend hier heißt Heinrich-Heine-Viertel und hält unter des Dichters Namen für den kleinen Kaufrausch eine Mini-Mall bereit. Denk ich an Deutschland in der Nacht... Ein Stückchen weiter gibt es den Schulze-Delitzsch-Platz sowie die letzten Reste des nach dem Krieg neu angelegten und nun zurückgebauten Heinrich-Zille-Parkes. Beide Namensgeber, der große Reformer wie der legendäre Sozialkritiker, stehen heute längst für die „Diktatur der Philanthropen" am Pranger, jene angeblich entmündigende und egalisierende Herrschaft der Moderne. Der Pinselheinrich hatte wohl eine perfide Lust an der Übertreibung der Not in den hiesigen Quartieren. Sein „Milljöh" scheint künstlerischer Freiheit oder aber politischem Extremismus entsprungen zu sein. Glaubt man Ludovica Scarpa, so ist das Berliner Wohnungselend aus unlauteren Motiven weit übertrieben worden. Unter Verweis auf die beachtlichen Wohltätigkeitsaktivitäten der Geheimratswitwen, bemüht sie sich nun, uns das neue „Recht auf Ungleichheit" schmackhaft zu machen. Die geglückte Rückkehr zur Normalität des freien Spiels der Kräfte feierte auch Hans Stimmann unlängst im Deutschen Architektenblatt. Ach, könnten Zille und der steinerne Versicherungsgründer doch nächtens im „Kleinen Regierungsviertel" umgehen wie weiland der Golem des Rabbi Löw. Ich wünschte, sie nähmen die U-Bahn und erschreckten einmal die Woche Sozialdemokraten.

Oder Antje Vollmer. Die profilierte sich unlängst damit, aktive Sterbehilfe für die staatliche Denkmalpflege zu leisten. Sie schlug vor, Zilles, Schulze-Delitzsch's und der Brüder Taut Berlin dem Wohlgefallen der Investoren zu überlassen und die öffentlichen Hände in Unschuld zu waschen. Für einen Denkmalschützer ist das, als wenn ein Schulpolitiker die Wiedereinführung der Prügelstrafe forderte, weil die Moderne - vom Leistungsprinzip her - pädagogisch völlig versagt habe. Wie das aussähe, konnte man bisher gleich um die Ecke im Schulmuseum besichtigen. Am Wege dorthin steht wieder ein Gewerkschaftshaus. Hier hatte 1919 der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund mit Blick zur Spree seine Zentrale errichtet. Am 1. Mai 1933 haben die Nazis sämtliche Strukturen der deutschen Arbeiterbewegung zerschlagen. Die Häuser wurden geplündert, die Bibliotheken verbrannt, die Funktionäre verhaftet und gefoltert. Von der deutschen Arbeiterklasse der Nachkriegszeit sagen die regierenden Sozialdemokraten und Grünen mit einigem Recht, dass sie eher eine ideologische Erfindung gewesen sei. Folgerichtig machen sie sich nun zur Avantgarde der Kleinbürgerkinder. Realpolitisch ernüchtert und schrecklich erwachsen geworden, haben die Gerhards, Rudolfs und Josefs am Ende ihres langen Marsches durch die Instituionen ihre historische Chance erkannt: Solange sie nur alle Schleusen öffnen, den vielbeschworenen „Reformstau" am Standort Deutschland aufzulösen, bleiben sie an der Macht.

Denn die Wendigen und Wirbellosen scheinen die Spezies der Zukunft. Die Identität jener genußfreudigen Urbaniten heißt, sich zum knuppeligen Nabel der Welt zu erklären und permanent selbst zu beglücken. Da wo ich bin, da soll es kitzeln. Und jenseits des 2. Förderwegs ganz doll schön sein. Deshalb machen sie am „rive gauche" auf Salon. Spielen Madam Pimpernell und Komissar Stulpnase. Wilhelm Rabe und das vormoderne Berlin - in dem die besseren Typen nach Amerika auswanderten - sind wieder „in". Ich dagegen tummle mich lieber jenseits jener intellektuellen Casablanca-Schwärmer. Ich meide jene Orte, an denen die transformierten 68iger Havanna rauchen und weiter davon träumen, dass einmal einer kommt und die „Internationale" zu singen beginnt. Denn sie wollten doch so gern Geschichte schreiben, dereinst im Mai... Geschichte aber ist nach Marc Bloch und Fernand Braudel da, wo es keine Ereignisse und Pappnasen gibt: Tief unten, unterhalb der schäumend bewegten See. Geschichte geht ihren eigensinnigen, nur im Nachhinein als notwendig erkennbaren Gang. Schlau ist man immer erst hinterher. Drum macht nur noch einen zweiten Plan, gehen tun sie beide nicht. Vive la peripherie! Lang lebe der „Club der Enthusiasten", die Köpi - und das „Milljöh". Am Arsch der neuen Mitte.

Simone Hain ist Architekturhistorikerin und freie Publizistin.

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