Ausgabe 11 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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An einem Morgen wie jeder andere

Von Horst Evers

Es gibt Tage, die fangen schon richtig blöde an. Dieses war so ein Tag. Wie kann ein Tag blöder anfangen, als wenn man mitten in der Nacht um 5 Uhr morgens aus dem Schlaf aufgeschreckt wird. Immerhin war ich erst vor 'ner Dreiviertelstunde ins Bett gekommen. Dieses schien ein richtig schlechter Tag zu werden. Die Stimme, die mich weckte, war erschröcklich schroff, und als ich langsam erkannte, daß der Resonanzkörper, der dieser Stimme dieses vitale Volumen verlieh, in der Uniform eines BVG-Nachtbusfahrers steckte, reifte in mir die Vermutung, daß dies womöglich sogar der König der Scheißtage war.

Flugs zimmerten meine trägen Hirnsynapsen noch einen zweiten bestechend logischen Gedanken: - Horst, das hier ist gar nicht dein Bett. Horst, das hier ist ein Nachtbus. Horst, und das ist gaaaar nicht gut. So. Dann war erstmal wieder Schluß mit denken. - So, aussteigen jetze, Sie sind zu Hause. - Zu Hause? Wo zu Hause. - Na Endstation, Tegel-Ort, wa. Tegel-Ort. Tegel-Ort war nicht zu Hause. Genau genommen war Tegel-Ort so ziemlich das genaue Gegenteil von zu Hause. Tegel-Ort, das war: Am Arsch der Welt. Und der hatte im
Moment auch noch Durchfall. Draußen regnete es in Strömen. Nix gegen Tegel-Ort persönlich. Auf keinen Fall will ich die Tegel-Orter hier beleidigen. Aber morgens um fünf, bei strömendem Regen in
Tegel-Ort, das ist schon wie beide Arme in Gips, eine ständig laufende Nase und eine weit vorstehende Unterlippe zu haben. Halt richtig blöde. Ich fragte den Fahrer, ob ich nicht im Bus bleiben könnte, bis er wieder zurückfährt. - Nee, dit jeht nich. Ick hab jetzt Feierabend. Der Bus fährt erst wieder inner halben Stunde. Solange kann ich Se hier nich drin allein lassen. Tut mir leid. Höhö. Ich versuchte, ihm den Bus abzukaufen. Er lachte. - Höhö. Sie sind lustig. Sie jefalln mir. Und jetzt raus. Ich stieg aus und stellte mich in den Regen. Zwar waren's bis zum Unterstellhäußchen nur knapp 50 Meter, aber ich beschloß, still stehen zu bleiben und mich ordentlich durchregnen zu lassen, nur so würde ich lernen, daß man im Nachtbus verdammt nochmal nicht einschlafen darf. So bin ich, hart aber gerecht. Nach gut zwei Minuten, als mir die ersten Tropfen durch die Poritze rannen, kam ich zu der Überzeugung, daß der Pädagogik nun genüge getan sei und ging zum Unterstellhäußchen. Der erste Bus kam aus irgendwelchen Gründen nicht, mit dem zweiten fuhr ich rund eine Stunde später zum nächsten U-Bahnhof in Tegel-City. Da mein Fahrschein mittlerweile abgelaufen war, kaufte ich mir einen neuen und stieg in die U-Bahn.

Knapp eine Stunde später weckte mich erneut eine laute Stimme:
- So, aussteigen jetze, Sie sind zu Hause! Irgendwie kam mir das alles sehr vertraut vor. - Lassen Sie mich raten. Alt-Mariendorf? - Jaaapp. Na prima. Diese Sache mit dem Heimweg wuchs sich langsam zu einem richtigen Problem aus. So konnte das nicht weitergehn. Wenn ich mich jeden Morgen erstmal mehrere Stunden mit so'm Scheiß rumschlagen muß, komm ich doch nie voran. So kann man doch nicht arbeiten. Ich mußte eine Lösung finden. Ich überlegte, was es mich kosten würde, an jeder Endhaltestelle des Berliner Nachtbusnetzes eine Wohnung anzumieten. Kam aber zu dem Schluß, daß die Kosten wohl so hoch wären, daß ich mir die BVG dann sicher nicht mehr leisten könnte. Mir blieb also nix., als es mit dem Heimweg immer und immer wieder zu versuchen. Irgendwann mußte es doch mal klappen. Vorsichtshalber schrieb ich noch meine Adresse auf einen Zettel und hängte ihn mir um den Hals. Wenn das keine geniale Strategie war. Als mich der nächste U-Bahnschaffner eine Stunde später in Tegel weckte, fiel bereits ein leichter Schatten auf die Genialität dieser Strategie. An der Stelle des Zettels klebte ein Aufkleber: „Nicht hupen, Fahrer träumt von Hertha BSC." Der Zettel war weg, mehr noch, auch mein Haus-und Wohnungsschlüssel fehlte. Ich mußte einräumen, daß mein ausgefuchster Plan wohl doch
einen Schwachpunkt aufwies. Mittlerweile war es nach neun, die
Läden hatten offen. Ich beschloß, diesmal ganz auf Nummer Sicher zu gehen und die Tegler Fußgängerzone zu besuchen, um mir einen Wecker zu kaufen.

Verblüffenderweise hatte mir der Dieb das Portemonnaie gelassen. Naja, vermutlich war ich so fett auf meinem Hintern gesessen, daß er einfach nicht an die Gesäßtasche rankam. Prima, da würd ich der
Polizei einfach nur sagen müssen, Hertha-Fan mit vermutlich gequetschten Fingern, dann Rasterfahndung, das würde ganz schnell gehen. Mein Hirn arbeitete schon wieder tadellos.

Im Kaufhaus suchte ich mir einen Wecker aus. Sinnigerweise einen Reisewecker. Ich testete ihn, indem ich kurz auf dem Verkaufstresen einschlief. Der Wecker klingelte, die Verkäuferin schrie: Der Wecker klingelt! Davon wachte ich auf. Super. In der U-Bahn würden die anderen Fahrgäste bestimmt auch schreien, wenn der Wecker klingelte. Auf dem Weg zur Station kam mir eine Idee. Ich ging zur Telefonzelle und rief den Dieb bei mir zu Hause an. - Ja. - Hallo. Hier ist Horst Evers. Was machen Sie in meiner Wohnung? - Ah, Sie sind dit. Gut, dasse anrufen. Mann, die Wohnung sieht vielleicht aus! Mein lieber Herr Gesangsverein. Da blickt ja kein Mensch durch. Wolln Se nich mal aufräumen? - Im Prinzip schon, aber wissen sie, ich bin dermaßen viel unterwegs, und außerdem war ich gar nicht auf den Überfall eingerichtet. - Jaja, dit sagen Se alle. Sagen sie, ist in diesem Chaos überhaupt irjendwat von Wert? - Nich, daß ich wüßte, aber wenn Se was finden, ich wär bereit zu teilen. - Na schönen Dank auch, da suchen Se man schön alleene, ick muß weiter! - Nein. Das ist mein einziger Schlüssel. Ich komm sonst nicht in die Wohnung. Wenn alles glattgeht, bin ich inner Dreiviertelstunde da. Setzten Se schon mal nen Kaffee auf, ich bring Brötchen mit, ich lad Sie zum Frühstück ein. - Na meinetwegen. Dann ist der Weg hierher wenigstens nich janz umsonst jewesen, wa? Ich ging zur U-Bahn, kaufte noch einen Fahrschein, diesmal gleich ne Tageskarte, man weiß ja nie, zählte die Stationen ab, stellte den Wecker und gelangte problemlos und gut gelaunt zum Leopoldplatz. Ein schönes Gefühl, von einer langen Reise nach Hause zu kommen, wenn man erwartet wird. Sogar den Wecker konnte ich am Leopoldplatz noch einem jungen Mann aus Schöneberg verkaufen, der bereits seit mehreren Stunden zwischen Osloer Straße und Rathaus Steglitz hin und her fuhr.

Als ich nach Hause komme, ist der Dieb schon weg. Immerhin hat er die Wohnung aufstehen lassen. Schaue, ob irgendwas fehlt. Nee, leider nicht. Der Schlüssel liegt auf dem Küchentisch. Außerdem hat er noch meine lange, lange Liste mit all den Sachen, die ich dringend erledigen muß, vom Pinnbrett genommen, neben den Schlüssel gelegt und ganz fett: „Aufräumen!!!" drunter gekritzelt. Setze mich vor die drei DIN-A4-Seiten lange Liste und starre sie an. Rund zwei Stunden starre ich auf die Liste. Auf der Liste steht nichts, überhaupt nichts, was mir Spaß machen könnte. Überlege die ganze Zeit, was ich
machen könnte, damit ich nichts von der Liste machen muß, ohne deshalb ein schlechtes Gewissen zu haben. Ich könnte die Bücher im Bücherregal nach Größe sortieren. Das hätte immerhin den Vorteil, daß mir das bestimmt nicht gefallen würde, und ich das nächste Mal, wenn ich wieder vor so einer Liste sitze, sie zurück nach Alphabet sortieren könnte. Das ist prima. Nehme 20 Bücher aus dem Bücherregal, lege sie auf den Boden, verliere die Lust, gehe wieder zum Küchensofa und schreibe: „Bücher zurück ins Regal räumen" mit auf die Liste. Puh, jetzt bin ich aber auch kaputt. Wär eigentlich mal Zeit für ne Pause, aber geht nicht, soviel Arbeit wie ich hab.

Will gerade wieder mit dem auf die Liste starren anfangen, da klingelt das Telefon. - Ja hallo, hier Evers? - Ja guten Tag, ist das die Busreisefirma Bussmann? - Oh nein, da sind Sie falsch. - Wir würden gern zwei Plätze buchen, für ne Fahrt nach Tirol im Januar. - Nee, das geht nicht, sie sind ... - Ach, is schon voll? Wir ham den Prospekt erst heut morgen gekriegt. Das is aber komisch. - Ne, is nich voll, is nur... - Ja gut, dann zwei Plätze für Scholz. - Ich hab keinen Bus! - Wie, das is ja komisch, dann halten Sie sich mal ran, bis Januar is nich viel Zeit.
- Ich hab auch im Januar keinen Bus. - Im Prospekt steht aber: Komfortreisebus mit Klimaanlage, WC und Kaffeebar. - Das hab ich alles nich! - Kaffeebar muß nich unbedingt. - Ich hab keinen Bus. - Na gut, is ja nich mein Problem, auf alle Fälle möcht ich zwei Plätze buchen. Nach Tirol. - Ich fahr nicht nach Tirol. - Na, ich wollt sowieso lieber nach Schottland, aber meine Frau sagt, laß lieber im deutschsprachigen Raum bleiben, da verstehn wir die Leute wenigstens. - Da wär ich mir nicht so sicher. - Wo soll ich denn das Geld hin überweisen? - Nirgendwohin! - Wie, kost das nix? das ist ja komisch. - Also gut, wenn Sie's nicht anders wollen, das kostet 1000 Mark. - Oi, im Prospekt schreiben Sie aber 199. - Das Angebot galt nur bis 11 Uhr, jetzt kostet's 1000 Mark pro Person. - Tja, kann man wohl nix. machen, wohin muß denn das Geld? Ich gebe auf, gebe ihm meine Kontonummer, lege auf, gehe zurück zum Sofa und schreibe „Busfirma gründen" noch mit auf meine Liste.

Horst Evers ist Autor, u. a. für „Salbader. Belehrung und Erbauung" Seine Texte trägt er regelmäßig bei „Dr. Seltsams Frühschoppen" vor.

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