Ausgabe 09 - 2000berliner stadtzeitung
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Sanierungspolitik am Scheideweg

Freiwillig oder Zwang- Die Umzugstätigkeit in Prenzlauer Berg zeigt, dass die Sanierungspolitik es nicht mehr allen recht machen kann

Ein seit Jahren schwelender Konflikt um die "richtige" Einschätzung der Bevölkerungsentwicklung im Bezirk Prenzlauer Berg hat einen neuen Höhepunkt mit der im Sommer veröffentlichten argus-Studie über "Wohnmobilität in Sanierungsgebieten" erreicht. Insbesondere das weitgehend kollektive Aufatmen der administrativen Verantwortungsträger von Bezirksamt über den Sanierungsträger S.T.E.R.N. bis hin zum Senat kann als Versuch gewertet werden, die interpretative Lufthoheit über die Fragen der Sanierungspolitik zu erlangen. Unisono wird den bisher herumkritisierenden Betroffenenvertretungen Schwarzmalerei vorgeworfen, aber auch den Redakteuren der verschiedensten Zeitungen der eigenen Erfolg in die Feder diktiert- es gibt keine Verdrängung.

Mit dem Wissen um die Komplexität städtischer Veränderungen sollen im Folgenden die allzu eindeutigen Interpretationen der argus-Studie hinterfragt und mit den Ergebnissen von anderen Untersuchungen konfrontiert werden: Stimmt es tatsächlich, dass die nicht durchgeführte Sanierung der Hauptgrund für die Auszüge aus den Sanierungsgebieten ist und gibt es wirklich keine Verdrängung durch Modernisierung?

In fünf Jahren jeder einmal umgezogen

Der Bezirk Prenzlauer Berg weist ein deutlich negatives Wanderungssaldo (die Zahl der Bewohner verringerte sich in den letzten fünf Jahren um etwa 10000) bei gleichzeitig steigender Mobilität auf. Die sogenannte Mobilitätsrate- also der Anteil der an Fort- und Zuzügen über die Bezirksgrenzen Beteiligten an der Gesamtbevölkerung- ist auf inzwischen 27 Prozent gestiegen und hat damit sogar die Westberliner Innenstadtbezirke überrundet. Vergleicht man die Mobilität des Gesamtbezirkes mit der von argus untersuchten Mobilität in den Sanierungsgebieten, so wird schnell deutlich, dass die Anteile der Fortzüge dort höher sind als im Bezirksdurchschnitt- das kann sowohl an "zuviel" aber auch an "zuwenig" Erneuerung in den Altbaugebieten liegen. Denn gerade die Altbauviertel haben sowohl den größten Bestand an Substandardwohnungen und weisen zugleich die höchste Sanierungsintensität auf.

In dem von argus untersuchten Zeitraum von 1994 bis 99 sind aus den Sanierungsgebieten 44969 Einwohner ausgezogen. Rein rechnerisch ist also in den letzten fünf Jahren jeder der 44656 Bewohner von Sanierungsgebieten einmal ausgezogen, auf eine jährliche Fortzugsrate heruntergebrochen etwa jeder fünfte. Stellen wir in Rechnung, dass zudem noch ein Anteil von Fortziehenden innerhalb des Bezirkes eine neue Wohnung bezieht, kommen wir auf ein jährliche Fortzugsmobilität von etwa einem Drittel.

Modernisierung ist wesentlicher Mobilitätsauslöser

Diese Zahl wiederum können wir jetzt mit dem Wissen über die Mobilität in privatmodernsierten Häusern einordnen. Drei vergleichbare Untersuchungen treffen zur modernisierungsbedingten Mobilität eine klare Aussage: Stellten die Studien von Topos und der Mieterberatung 1995 und 1998 fest, dass jeweils 40 bzw. 50 Prozent der Bewohner nach abgeschlossener Modernisierung erst nach der Modernisierung ins Haus gezogen sind, so liegt diese Quote einer aktuellen Untersuchung der Humboldt-Universität zu Folge inzwischen bei 60 Prozent. Der Anteil von Auszügen infolge von Modernisierungen ist also etwa doppelt so hoch als im Durchschnitt. Die vielfach zitierte Aussage des S.T.E.R.N-Koordinators Theo Winters: "Der wesentliche Grund für den Wegzug liegt in der noch nicht durchgeführten Modernisierung", muss sich zumindest mit der Aussage relativiert sehen: Modernisierung ist auch weiterhin der stärkste Mobilitätsgrund. Ob als Anlass oder Ursache: Häuser mit angekündigten und durchgeführte Modernisierungsarbeiten stellen das mobilste Wohnungssegment im Bezirk.

Bezogen auf die Anteile der Fortziehenden müssen verschiedene Formen der Modernisierung voneinander unterschieden werden: Bei wenig durchgreifenden Modernisierungsarbeiten ist die Quote der Altmieter am höchsten, insbesondere bei intensiven Modernisierungsarbeiten aber auch bei angekündigten und dann verzögerten Baumaßnahmen lassen sich Auszugsquoten von etwa 80 Prozent feststellen.

In vielen Fällen sind dabei Zwang und freie Entscheidung nicht klar voneinander zu trennen. Insbesondere in den schlecht ausgestattenen Wohnungen vieler unsanierter Häuser können sich die Bewohner Verbesserungen ihrer Wohnsituation vorstellen oder wünschen. Ein Umzug in eine andere Wohnung hat so immer auch einen freiwilligen Charakter und kann als Realisierung eigener Wohnvorstellungen beschrieben werden. Dennoch stellt die angekündigte oder durchgeführte Modernisierung für die meisten Bewohner erst den strukturellen Zusammenhang dar, in dem eine Entscheidung über Verbleib oder Umzug getroffen werden muss. Insofern ist eine Sanierung immer auch eine von außen auferlegter Eingriff in die Lebensgestaltung und trägt somit deutlichen Zwangscharakter.

Gespaltene Mobilität

Ein Maß für Freiwilligkeit wäre die Übereinstimmung von Umzugswünschen und tatsächlich realisierten Umzügen. Für diesen Zusammenhang ist ein Blick auf eine frühere Studie von argus "Ermittlung gebietstypischer Mietobergrenzen in den Sanierungsgebieten" aus dem Jahr 1997 hilfreich. Hier wurden vier Haushaltstypen benannt, die eine überdurchschnittliche Umzugsneigung aufweisen: Alleinstehende unter 35 Jahren, junge Paare unter 35 Jahren, Familien und Alleinerziehende. Die aktuelle Studie weist von diesen Gruppen lediglich die Familien als Haushaltstyp aus, der auch in überdurchschnittlichem Maß Umzüge realisieren konnten. Ansonsten waren es die älteren Alleinstehende und die älteren Paare- also jene Gruppen, die noch 1997 die stärksten Bindungen an Wohnung und Bezirk zeigten.

Diese Gegenüberstellung verweist auf einen zumindest eingeschränkten Charakter der Freiwilligkeit: Offensichtlich konnten nicht alle, die umziehen wollten, dies tatsächlich tun. Ein Blick auf die Einkommensverhältnisse der Mobilen gibt uns eine erste Antwort: In allen Gruppen, mit Ausnahme der Familien, verfügen die Fortziehenden über ein deutlich höheres Haushaltseinkommen (250 bis 500 DM mehr) als der Durchschnitt des jeweiligen Haushaltstyps. Wenig überraschend: Einkommen und die Möglichkeit einer gewünschten Mobilität stehen in einem direkten Zusammenhang.

Einkommensstarke Haushalte setzen sich durch

Auf der anderen Seite geben die bereits oben angeführten Untersuchungen über die Folgen von Privatmodernisierungen einen guten Einblick in die Auswirkungen der Erneuerungsarbeiten: Die nach der Modernisierung verbliebenen Altmieter verfügten 1998 über ein durchschnittliches Haushaltseinkommen von 2900 Mark- der Durchschnitt aller Haushalte in den Sanierungsgebieten lag zu diesem Zeitpunkt bei 2106 Mark. Mit anderen Worten: bei Privatmodernisierungen können sich vor allem einkommensstärkere Haushalte durchsetzen, Bewohner mit geringeren Einkommen ziehen in stärkerem Maße aus.

Die Einkommensunterschiede derjenigen, die aus den modernisierten Häusern ausziehen und derjenigen, die den Bezirk verlassen, verweisen auf deutlich verschiedene aber gleichzeitig stattfindende Mobilitätsprozesse: auf der einen Seite Wohnsitzmobilität von Besserverdienenden, aus unsanierten, aber auch sanierten Beständen, um die Wohnsituation den eigenen Wünschen entsprechend zu gestalten- das sind die glücklichen und zufriedenen Befragte der argus-Studie. Auf der anderen Seite die, durch die Wohnungsmodernisierungen aus ihren bisherigen Lebenssituationen Gerissenen, die mit ihren unterdurchschnittlichen Einkommen zum größten Teil innerhalb des Bezirkes umgezogen sind- und nicht von der argus-Studie erfasst wurden.

Neue Herausforderungen für die Sanierungspolitik

Die beschriebene Gleichzeitigkeit entgegengesetzter Mobilitätsprozesse kann natürlich nicht mit einem pauschalen Urteil beschrieben werden, sondern verlangt eine positionierende Stellungnahme. Die Sanierungspolitik muss sich entscheiden: entweder eine Intensivierung der Erneuerung nach dem bisherigen Model zu fordern, um die freiwillig ausziehenden Haushalte mit den höheren Einkommen im Bezirk zu halten und ihre gestiegenen Wohnwünsche hier zu befriedigen- oder sich verstärkt den Sanierungsbetroffenen zuzuwenden und es gerade nicht zu akzeptieren, dass nach einer abgeschlossenen Modernisierung nur noch 20 oder 30 Prozent der Altmieter in den Häusern wohnen. Eine Sanierungspolitik jedoch, die es allen recht macht, wird es nicht mehr geben.

Andrej Holm

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsprojekt "Stadterneuerung und Wohnungsmodernisierung unter veränderten Bedingungen" an der Humboldt-Universität Berlin.

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