Ausgabe 09 - 2000berliner stadtzeitung
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Jenseits der Maus

"Strapazin"- ein Comic-Magazin für Leser ohne Entenfüße

Einer der großen Reize der Schweiz wird von der Weltöffentlichkeit bisher kaum gewürdigt: Das putzige Land ist ein Comicparadies. Nach dem auch von Goethe positiv bemerkten Auftreten des Erfinders des Comics, Rodolphe Töpffer aus Genf, tat sich erstmal lange nichts bedeutsames, bis nach Ġ68 zunächst in der französischen Schweiz unter frankobelgischem Einfluss eine eigenständige Comicszene entstand. Im deutschsprachigen Teil der Schweiz war von einer Comickultur zu diesem Zeitpunkt noch nichts zu bemerken, als Anfang der Achtziger in der Folge autonomer Jugendkrawalle in Zürich eine kleine Explosion expressiv-agitatorischer Bildgeschichtenzeichnerei einsetzte. Hieraus entwickelte sich rasch eine unkonventionelle, avantgardistisch orientierte Comicszene, die sich frei von den Versuchungen einer nicht existierenden Mainstream-Verlagswelt entfalten konnte. 1984 schließlich kam es zur Gründung des ersten reinen Comicmagazins dieses Umfelds, "Strapazin", das mit schöner Regelmäßigkeit viermal jährlich erscheint und im Lauf diesen Monats seine sechzigste Ausgabe erreichen wird.

"Strapazin" ist als Magazin für moderne Bildergeschichten auch im internationalen Vergleich einzigartig. Von Anbeginn setzte man auf die Präsentation wichtiger Zeichner aus aller Welt, als noch kaum Kontakt zwischen den Comicszenen verschiedener Länder bestand. Erst Jahre später wurde es so zum Vorbild heutiger kleiner Künstlerverlage und ihrer Magazine vor allem in Frankreich und Belgien.

"Strapazin" stellte, zusammen mit dem Avantgarde-Comicverlag "Edition Moderne" des "Strapazin"-Mitgründers David Basler, etliche unverzichtbare Namen erstmals im deutschsprachigen Raum vor, allen voran das argentinische Zeichner-Autor-Gespann Mu–oz/Sampayo, weiterhin Lorenzo Mattotti, Stefano Ricci aus Italien, die Amerikaner Daniel Clowes, Charles Burns aus Frankreich Baudoin und die Zeichnergruppe "LĠAssociation", "Frigo" aus Belgien, die Schweizer Thomas Ott und Anna Sommer, um nur einige zu nennen.

Die Hefte enthalten grundsätzlich nur abgeschlossene Geschichten, die redaktionellen Beiträge bieten Hinweise auf wichtige Publikationen und Veranstaltungen, sowie informative Zeichnerporträts oder Essays.

Die aktuelle Nummer 59 fungiert gleichzeitig als Katalog einer New Yorker Ausstellung, die "Independent"-Zeichner aus der Schweiz und den USA gemeinsam präsentiert. Hier zeigt sich wieder deutlich, dass die Definition des Comic, wie sie "Strapazin" vertritt, weit gesteckt ist. Von erzählerisch orientierten Geschichten mit klassischen Panelsequenzen bis zu völlig freien Bilderfolgen ist alles möglich. Der bislang radikalste Ausläufer in dieser Richtung war Nummer 53 zum Thema "Artcomics". Weitere Themenhefte befassten sich speziell mit Comics aus bestimmten Ländern, Comics von Frauen oder Comicreportagen. Es lohnt sich, im Comicladen auch nach alten Ausgaben zu fragen, handelt es sich doch weniger um ein "tagesaktuelles" Magazin als um eine fortlaufende Anthologie eines vielgestaltigen Mediums.

Kai Pfeiffer

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