Ausgabe 08 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Verdrängung kein Problem mehr?

Aus einer Studie über Umzugsgründe in den Sanierungsgebieten von Prenzlauer Berg werden gefährliche Schlüsse gezogen

"Ofenheizung - nein danke: Kiezflucht aus Prenzlauer Berg" - so titelten die Zeitungen Mitte Juli. Der Aufhänger dafür war eine Studie des Sanierungsträgers S.T.E.R.N., in der erstmals versucht wurde zu ermitteln, warum die Leute aus den fünf Sanierungsgebieten des Bezirks wegziehen. Die Ergebnisse der Umfrage wurden schnell verallgemeinert: Die Sanierung gehe den Prenzlauer Bergern nicht schnell genug, sie wollen Zentralheizungen und moderne Bäder, Verdrängung durch Sanierung finde nicht statt, im Gegenteil wanderten die Leute wegen fehlender Sanierung ab. Die Tagespresse machte daraus einen Flüchtlingsstrom. Doch schaut man sich die Studie genauer an, sieht man, dass sie all diese Schlussfolgerungen gar nicht zulässt.

"Anlass für die Studie war, dass die Betroffenenvertretungen behaupten, Mietsteigerungen führten zur Verdrängung, und die Ziele der sozialen Stadterneuerung würden somit verfehlt", sagt Martin Schönherr von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Schon oft wurde beklagt, dass es keine Erkenntnisse darüber gibt, warum die Weggezogenen den Kiez verlassen haben - ob sie durch modernisierungsbedingte Mietsteigerungen verdrängt wurden oder freiwillig gegangen sind.

Die Sozialforschungsgesellschaft "argus" ist nun erstmals über das Einwohnermelderegister an die Leute herangekommen, die jetzt nicht mehr in Prenzlauer Berg leben. 45000 Einwohner sind zwischen 1994 und 1999 aus den Sanierungsgebieten weggezogen. Die jährliche Fluktuation betrug zwischen 6 und 10,3 Prozent. In einer Stichprobe wurden 500 Haushalte telefonisch über ihre vorherige und jetzige Haushalts- und Einkommenssituation sowie über die Gründe des Umzugs befragt.

Vermutungen bestätigt

68 Prozent der Interviewten gaben als Umzugsmotive den schlechten Ausstattungstandard der alten Wohnung an, 44 Prozent waren mit dem Wohnumfeld unzufrieden und die Hälfte der Befragten nannte auch eine veränderte Haushaltsgröße als Umzugsgrund. Vor allem größere Haushalte mit mittlerem und höherem Einkommen ziehen fort. Ein Drittel der Umzüge erfolgte innerhalb von Prenzlauer Berg, 46 Prozent in andere Berliner Bezirke - bevorzugt waren hier Hohenschönhausen, Pankow und Weißensee.

"Diese Ergebnisse waren bisher nur Vermutung", sagt Theo Winters, S.T.E.R.N.-Koordinator für Prenzlauer Berg. "Der wesentliche Grund für den Wegzug aus den Sanierungsgebieten liegt in der noch nicht durchgeführten Modernisierung", folgert er. "Die vielfach befürchtete Verdrängung durch den Sanierungsprozess ist nicht eingetreten", heißt es in einem S.T.E.R.N.-Thesenpapier. Das liege vor allem an den Mietobergrenzen. "Das hat einigermaßen funktioniert und muss fortgeführt werden", so Winters, "die Miet-obergrenze ist kein Schönwetterinstrument." Um den Bevölkerungsverlust zu stoppen, müsse man sich auch verstärkt den Grün- und Freiflächen, den Spielplätzen und der Senkung der Verkehrsbelastung widmen. "Auch um die soziale Infrastruktur müssen wir uns mehr kümmern", ergänzt Winters. Das nicht ganz uneigennützige Fazit des Sanierungsträgers lautet: "Zur Vermeidung hoher Fluktuation muss der Sanierungsprozess mit gleichem Tempo und ohne Reduzierung des Förderumfanges fortgeführt werden."

Warnung vor falschen Schlüssen

Entschiedenen Widerspruch meldeten jedoch die Betroffenenvertretungen an: "Vor dem Schluss, Verdrängung sei kein Problem mehr, muss man warnen", meint Matthias Bernt von der Betroffenenvertretung Helmholtzplatz, "das gibt die Studie nicht her." Fragestellungen, die für das Problem der Verdrängung relevant wären, sind in der Untersuchung "systematisch unterbelichtet", heißt es in einer gemeinsamen Stellungnahme der Betroffenenvertretungen Helmholtzplatz und Kollwitzplatz. Sie kritisieren, dass die Studie nur 58 Prozent der Fortzüge erfasst, Umzüge innerhalb der Sanierungsgebiete sind nicht berücksichtigt.

Der Frage, wo die unteren Einkommensgruppen nach der Sanierung bleiben, geht die Untersuchung nicht nach. Die Betroffenenvertretungen vermuten daher, dass die ärmeren Bevölkerungsschichten zunehmend in unsanierte, noch preisgünstige Wohnungen im Kiez ziehen. "Aufgrund ihrer Beschränkung auf Fortzüge aus den Sanierungsgebieten heraus entgehen ,argus´ also genau die Bevölkerungsgruppen, für die Modernisierung und steigende Mieten ein Problem sind. Deshalb ist die Studie völlig ungeeignet, um zu klären, ob Sanierung zu Verdrängung führt oder nicht", heißt es in ihrer Stellungnahme.

Kritisiert wird auch die Methode der Umfrage: Abgesehen von den Nachteilen von Telefoninterviews seien auch die Antwortkategorien bei der Frage nach den Umzugsgründen nichtssagend bzw. hätten mit der Sanierung nichts zu tun. Die beiden meistgenannten Antworten waren "Wohnung entsprach nicht mehr meinen Vorstellungen" und "familiäre/persönliche Gründe". "Um so beeindruckender ist es", schreiben die Betroffenenvertreter, "dass dort, wo die Interviewten das erste Mal die Möglichkeit haben, zusätzliche Gründe zu nennen, prompt ,Auszug wegen Sanierung´ auftaucht."

Verdrängungstheorie widerlegt?

Senatsstadterneuerer Martin Schönherr glaubt, dass die Verdrängungstheorie der Betroffenenvertretungen mit der "argus"-Studie widerlegt ist, und fordert eine Erhöhung des Sanierungstempos "mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln". In der Tat hätte wohl kaum jemand etwas dagegen, schnell eine tiptop-sanierte Wohnung zu bekommen - wenn sie denn bezahlbar wäre. Doch die Hälfte der Mieter, die während einer durchschnittlichen Sanierung auszieht, tut dies sicher nicht, weil sie Zentralheizung und Innentoiletten verabschauen. Es findet nach wie vor eine Verdrängung statt. Und folgt man der Vermutung der Betroffenenvertreter, dass die Einkommensschwachen sich Wohnungen in unsanierten Häusern um die Ecke suchen, dann steht bei einer forcierten Sanierung, wenn die billigen Wohnungen immer weniger werden, die eigentliche Verdrängung erst noch bevor.

Jens Sethmann

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 08 - 2000