Ausgabe 08 - 2000berliner stadtzeitung
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Berliner Müllkulturen

Vor einiger Zeit traf ich einen alten Freund wieder, der gerade seine Zelte im Schwarzwald abgebrochen hatte, um sie in Berlin wieder aufzuschlagen. In seine stilvoll eingerichtete Wohnung in Prenzlauer Berg lud er nun zum Einstandstrunk ein. "Wie sauber und gepflegt", dachte ich noch, als ich die Treppe erklomm. Der Hof war begrünt, der Kies geharkt und die Stiege frisch gebohnert. Aber welch ein Schock! Wenig später musste ich erleben, wie mein alter Freund - Zornesfalten auf der Stirn - in niederträchtigster Weise über seine neue Berliner Hausgemeinschaft sprach. "Ein Fernsehgerät in der gelben Tonne!" schimpfte er wieder und wieder und goss Schnaps nach. Er schreckte nicht einmal davor zurück, die schlimmen Wörter "asozial" und schließlich "Umweltschweine" zu gebrauchen.

Entsetzt verließ ich die Wohnung und stapfte traurig durch die Nacht. Ab und an schlich ich in einen Hof, um einen Blick in die Mülltonnen zu werfen. Tatsächlich: Die obskursten Dinge sah ich da - und selbst ich geriet ins Schwanken, ob das alles seine Ordnung habe: Eine Haushaltsschürze mit Gummibrüsten in die gelbe Tonne oder nicht?

Dieses Erlebnis führte mich dazu, ein Forschungsprojekt zu beginnen, dessen erste Ergebnisse ich hier vorstellen möchte. Welche sozialen Ursachen führen zu jenem Zustand, der den Schwaben zu solchen Entgleisungen verleitete? Was ist Müllkultur in Berlin? Wir konnten nachweisen, dass nur bei oberflächlicher Betrachtung von Nachlässigkeit oder gar Unordnung die Rede sein kann. Bei näherem Hinsehen zeigt sich vielmehr eine bunte Vielfalt divergierender Auffassungen über das Ordnen des Mülls, das sich nicht selten bestimmten Ethnien oder Religionsgemeinschaften zuordnen läßt. Unsere Metropole, der große Meltingpot der Kulturen, lässt all diese eigenständigen Ordnungen als ein virtuoses Konzert zusammenklingen, dessen Schönheit sich auf den zweiten Blick offenbart.

Ordnungsliebe bei Menschen aus der ehemaligen DDR

Bei Menschen aus der ehemaligen DDR bot sich ein differenziertes Bild. Im Allgemeinen bekannten die Ex-DDR-Bürger Sinn für Ordnung, respektive Müllordnung.

Ich zeige dies am Beispiel der Seniorin Frau Heckel aus Prenzlauer Berg: Sie entsorgt den Hausmüll in den grünen Behälter - für größeren Hausrat gibt es die gelbe Tonne. Als Unsitte empfindet sie, wenn Nachbarn versuchen, Fernsehgeräte in bereits überquellende gelbe Tonnen zu stopfen. Nach dem Prinzip von Kritik und Selbstkritik wird das Fehlverhalten bei nächster Gelegenheit zur Sprache gebracht und das eigene Handeln am gleichen strengen Maßstab gemessen.

Kulturpessimistische Anti-Müllkultur bei Ex-DDR-lern

Auf eine andere Haltung traf ich bei ehemaligen Oppositionellen. Sie haben in kurzer Zeit erlebt, wie man versuchte, einen Menschheitstraum in einem Staat zu verwirklichen, wie man diesen Staat stürzte - und wie schließlich in der BRD alle großen Menschheitsutopien vergessen wurden, anstelle dessen aber das Mülltrennen einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert gewann. "Während der Wende diskutierten wir noch über neue Gesellschaftsmodelle", sagte mir ein junger Mann aus Halle. "Später gab es nur noch Arbeitsgemeinschaften zum Thema Mülltrennung." Das Streben des Menschen nach kultureller Weiterentwicklung wird in seinen Augen heute in Mülltrennungsdebatten kanalisiert. Dies ist ein Beispiel für eine kulturpessimistisch motivierte Anti-Müllkultur.

Subjektivistische Müllkulturen in Westberlin

Bei Ur-Westberlinern lassen sich müllkulturell extreme Individualisierungsprozesse beobachten, die wahrscheinlich von jahrelanger Insellage und Isolation herrühren. Die Müllkultur - als Ausdruck von Alltagskultur - entwickelte hier stark subjektivistische Züge, bis hin zur völligen Undeutbarkeit und Hermetik. Ein Hauswart aus Kreuzberg z.B. widmete nach meiner Beobachtung drei Viertel seines gesamten Zeitbudgets dem Sortieren "falsch" eingeworfenen Mülls. Er schien stets genauen Überblick über den Inhalt der Tonnen und seine Anordnung zu haben. Jedoch konnte ich hierbei auch nach gründlichster Observation keinerlei System ausmachen. Möglicherweise spielen persönliche ästhetische Kriterien eine Rolle.

"Autonome" Glaubensgemeinschaften: Hochkultur der Müllwiederverwertung

Traditionell bietet die Stadt Berlin religiös verfolgten Minderheiten Zuflucht und muss deren fremdartige Verhaltensweisen integrieren. Heute siedeln z.B. "autonome" Glaubensgemeinschaften vor allem in Friedrichshain. Sie lehnen das duale System aus religiösen Gründen ab und nutzen die gelbe Tonne meist für Bauschutt. Die Müllkultur dieser Gemeinde gibt oft Anlass zu Missstimmigkeiten in der Nachbarschaft: Unordentliche "Haufen" vor den Häusern sind meist der Grund der Kritik. Diese "Haufen" von ausgesonderten Dingen dienen jedoch als Recyclinglager. Ein Freund von mir, der lange in der Glaubensgemeinde lebte, berichtete von einem blauen Stuhl, den er eines Tages wegwarf - auf den "Haufen" vor seinem Haus. Wenig später sah er den Stuhl in der Küche eines Freundes wieder. Als er nach einiger Zeit eine Straße weiterzog, benötigte er eine neue Sitzgelegenheit für seinen Schreibtisch. Auf dem "Haufen" vor dem neuen Haus fand er seinen blauen Stuhl wieder und nahm ihn an sich. Dieses Beispiel zeugt von einer Hochkultur der Müllwiederverwertung.

Wiederverwertungskultur rumänischer Einwanderer

Rumänische Einwanderer nutzen vornehmlich die gelbe Tonne - weil die am meisten Platz dafür bietet - als kurzfristiges Zwischenlager für Waren, die gerade aus dem Besitz eines Kapitalisten entfernt wurden und in Kürze einem neuen Eigentümer zugeführt werden. Auch dies ist im weiteren Sinne ein Wiederverwertungsprozess.

Müllkultur als Identität: Schwäbischer Einwanderer

Die Müllkultur der Schwaben harmoniert am ungünstigsten mit der anderer Ethnien in Berlin. Das rührt daher, dass im Herkunftsland der Schwaben die Mülltrennung eine identitätsstiftende Rolle spielt. Ein schwäbisches Mülltrennungsritual sei hier angeführt: Junge Mädchen und Knaben müssen mit bloßen Händen Aluminiumdeckelchen von Joghurtbechern lösen, um sie in ätzenden Laugen von Schmutzrückständen zu säubern. Anschließend werden sie in speziellen Behältnissen gesammelt. Der Stammesälteste wacht streng über die korrekte Durchführung des Rituals und zögert nicht, bei abweichendem Verhalten brutal zu strafen. Der Ritus dient der Initiation der geschlechtsreifen Heranwachsenden. Der Schwabe reagiert daher besonders empfindlich auf Konfrontationen mit fremden Müllkulturen und neigt zu zwanghafter Beibehaltung inadäquater Verhaltensweisen. Er flucht über Elektrogeräte in gelben Tonnen und versucht, Sammelbehälter für Joghurtdeckel aufzustellen.

Russische Einwanderer: Ökonomie des Recycling

Sascha Limonow, gelernter Elektriker aus Nowgorod dagegen freut sich über die Elektrogeräte, die er häufig in den gelben Tonnen findet. Er repariert sie und verkauft sie an Wladimir Wolkow. Wladimir Wolkow wiederum verkauft die guten Artikel an russische Haushalte weiter, die schlechteren bringt er zum Flohmarkt auf dem Moritzplatz. An diesem Fallbeispiel lässt sich ablesen, wie in der russischen Gemeinde Recyclingprozess und informelle Mikroökonomie perfekt ineinandergreifen.

Mülltrennung vietnamesischer Händler

Vietnamesischen Gemüse- und Gemischtwarenhändler antworteten auf unsere Mülltrennungsfrage überwiegend: "Das haben wir leider nicht. Vielleicht möchten Sie lieber das?"

Tina Veihelmann

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