Ausgabe 08 - 2000berliner stadtzeitung
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Berlin seitenverkehrt

Neue Bücher aus dem Themenpark "Metropole"

Bilanzziehen hat in diesem Jahr Hochkonjunktur in Berlin. Überall werden Resümees nach zehn Jahren des Zusammenwachsens der Stadt gezogen. Der Architekt Josef-Paul Kleihues gibt sich damit nicht zufrieden. In seiner Privatausstellung "Stadt der Architektur - Architektur der Stadt. Berlin 1900-2000", die noch bis zum 3. September im Neuen Museum zu sehen ist, lässt der "Erfinder" der "kritischen Rekonstruktion" gleich das ganze letzte Jahrhundert Revue passieren. In die Ausstellung muss man nicht unbedingt gehen, wenn man nicht großen Wert darauf legt, sattsam bekannte Architekturzeichnungen und Pläne im Original zu sehen. Die zugegebenermaßen schwierige Auswahl zeigt deutlich Kleihues´ Vorlieben: die Reformmodelle der frühen Moderne, die er seit der IBA postmodern "kritisch rekonstruiert". Der Katalog zur Ausstellung trägt jedoch zusammen mit der gleichzeitig herausgegebenen Chronik "Bauen in Berlin 1900-2000" - mit einigen Abstrichen - Charakterzüge eines Standardwerks. In der Ausstellung sind die beiden Bände deutlich günstiger als im Buchhandel. Dieser Preisvorteil stimmt den Leser milde, obwohl es eigentlich unverzeihlich ist, dass beispielsweise Michael Mönninger ungestraft solchen Blödsinn schreiben darf: Berlin sei "zur Hälfte im Krieg und zur anderen Hälfte im Wiederaufbau vernichtet" worden.

Die Veränderungen der letzten zehn Jahre im Berliner Stadtbild thematisiert Jürgen Tietz in seinem Buch "Berliner Verwandlungen - Hauptstadt/Architektur/Denkmal". Der Architekturkritiker schreibt vor allem gegen falschverstandene Denkmalpflege an, bleibt dabei aber auffallend unpolitisch. Wenn er etwa den "rasanten Berliner Roll-Back in Sädtebau und Architektur" am Beispiel des Lustgartens geißelt, der "nun von einem lieblich-grünen Rasenteppich überdeckt wird", dann verliert er kein Wort darüber, woher das Geld dafür kommt oder warum sich in Berlin solch ein denkmalpflegerisch haarsträubender Historismus durchsetzen kann.

Als Trojanisches Pferd kommt der Band "Der Potsdamer Platz - Urbane Architektur für das neue Berlin" daher. Zunächst sieht das Buch aus wie ein Bildband, der sich vor allem an Touristen wendet. Die Zweisprachigkeit {deutsch/englisch) untermauert diesen Eindruck. Doch die drei Texte überraschen mit kritischen Tönen: Hans Wilderotter zeichnet die Geschichte des Potsdamer Platzes nach, ohne auf fadenscheinige Mythen hereinzufallen, Roland Enke geht den vertanen Chancen bei den Planungen nach dem Mauerfall nach und Werner Sewing versucht sich unter dem Titel "Herz, Kunstherz oder Themenpark" an einer architektursoziologischen Deutung des Phänomens Potsdamer Platz. Die Fotos von Alexander Schippel wirken dagegen zu schön.

Ein Luftbild des Potsdamer Platzes hat auch das Buch "Berlin - Metropole zwischen Boom und Krise" auf dem Cover. Doch das Bild ist spiegelverkehrt. Zuerst denkt man an einen peinlichen Fehler, aber nach der Lektüre ist nicht mehr klar, ob die seitenverkehrte Benutzung des neuen Berlin-Klischees nicht doch Absicht ist. Die Autoren Stefan Krätke, Wirtschafts- und Sozialgeografie-Professor an der Universität Frankfurt (Oder), und Renate Borst, Soziologin am Fachbereich Architektur der TU Berlin, analysieren die wirtschaftlichen, sozialen und räumlichen Strukturveränderungen Berlins in den neunziger Jahren. Sie sehen die Entwicklung nicht als aufholende Normalisierung auf dem Weg zur "Global City", sondern stellen im Gegenteil fest, dass Berlin gegenüber anderen Stadtregionen weiter an Boden verliert. Ihr unausgesprochenes, aber deutliches Fazit: Die Berliner Wirtschafts-, Stadtentwicklungs- und Sozialpolitik hat im vergangenen Jahrzehnt völlig versagt. Besserung nicht in Sicht.

Zumindest was die Berliner Stadtentwicklungspolitik angeht, scheinen der Bund deutscher Architekten und die Bundesarchitektenkammer anderer Meinung zu sein und schickten Berlin als deutschen Beitrag zur Architektur-Biennale nach Venedig. "Stadt: weniger Ästhetik, mehr Ethik" ist dort das diesjährige Motto. Konzipiert wurde der deutsche Beitrag ausgerechnet von einem, der eine sehr einseitige Vorstellung von Ästhetik und kaum eine von Ethik hat: von Senatsbaudirektor Hans Stimmann. Gezeigt werden hauptsächlich Schwarzpläne, die die Bebauungsstruktur der Stadt abbilden: vor dem Krieg (alles heile), nach Krieg und Teilung (alles kaputt) und nach dem Planwerk Innenstadt (alles wieder heile). Diese plumpe Planwerk-Stimmann-Eigenlob-Veranstaltung unter dem Namen "Physiognomie einer Großstadt" wird von einer zweisprachigen (deutsch/italienisch) Essaysammlung. "StadtWende - Komplexität im Wandel" heißt der schmale Halbleinenband, der inhaltlich mit der Ausstellung zum Glück nichts zu tun hat (mit Ausnahmen des Beitrags von Gerwin Zohlen, der das Planwerk sogar "epochal" nennt). Die acht Architekturtheoretiker und -kritiker halten sich in ihren Texten sogar an das vorgegebene Venediger Motto.

Obwohl sich das Buch "Die Stadt als Beute" von Klaus Ronneberger, Ste-phan Lanz und Walther Jahn mit der allgemeinen Stadtentwicklungspolitik in Deutschland beschäftigt, kommt die Sprache immer wieder auf Berlin. Während überall die Kommunen als "profit center" organisiert werden und Urban Entertainment Center aus dem Boden sprießen, benimmt sich Berlin wie ein 889 Quadratkilometer großer Themenpark "Metropole". In Berlin ist die soziale Spaltung weiter vorangeschritten als anderswo. Das Modell der "Bürgerstadt", das die "Mieterstadt" ablösen soll, nennen die Autoren "neomittelalterlich". Die Knüpfung von Bürgerrechten an das Eigentum an Grund und Boden, wie sie im Planwerk Innenstadt mitklingt, verrate ein Klassendenken wie im 19. Jahrhundert. Im krassen Gegensatz zum immer geringer werdenden Einfluss der Bewohner steht die Vielzahl an Diskussionsveranstaltungen: "Keine andere Stadt dürfte in den letzten zehn Jahren mehr Symposien, Ausstellungen, Stadtforen, Wettbewerbe und Podiumsdiskussionen erlebt haben, die so wirkungslos geblieben sind."

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  • Stadt der Architektur - Architektur der Stadt. Berlin 1900-2000, Nicolai-Verlag, Berlin 2000, 448 Seiten, 49,90 DM (in der Ausstellung), 98 DM (im Buchhandel)
  • Bauen in Berlin 1900-2000, Nicolai-Verlag, Berlin 2000, 495 Seiten, 39.90 DM (in der Ausstellung), 78 DM (im Buchhandel)
  • Jürgen Tietz: Berliner Verwandlungen - Hauptstadt/Architektur/Denkmal, Verlag Bauwesen, Berlin 2000, 160 Seiten, 49,90 DM
  • Der Potsdamer Platz - Urbane Architektur für das neue Berlin, Jovis-Verlag, Berlin 2000, 96 Seiten, 29,80 DM
  • Stefan Krätke, Renate Borst: Berlin - Metropole zwischen Boom und Krise, Verlag Leske + Budrich, Opladen 2000, 306 Seiten, 44 DM
  • StadtWende - Komplexität im Wandel, Jovis-Verlag, Berlin 2000, 112 Seiten, 32 DM
  • Klaus Ronneberger, Stephan Lanz, Walther Jahn: Die Stadt als Beute, Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 1999, 240 Seiten, 24,80 DM.

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