Ausgabe 07 - 2000berliner stadtzeitung
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Kindheit für alle!

Der heilige Blödsinn des Spätkapitalismus, auch unter dem Namen "Trend" bekannt, assimiliert bekanntlich jede Kulturleistung, die nicht bei drei in die Kanalisation abgetaucht ist. Das kann ziemlich lustig sein: Da unternehmen Trendscouts und Lifestylepropheten lebensgefährliche Expeditionen in die Subkultur, um dann staunenden Otto-Normal-Hypstern zum Beispiel die Stubenhockerei als cooles "Nesting" zu verkaufen. Dabei gucken sie so bedeutungsschwanger wie einst der Tierschreck Grzimek, wenn er in der usbekischen Steppe eine neue Wüstenspringmausunterart beim Eierlegen filmen konnte. Doch langsam wird es ernst - womit der Spaß womöglich erst richtig anfängt. Denn nun haben die Erlebnis-Schnorrer unseren Kindern (ja, genau, diese kleinen Menschen, die immer Spielsachen haben wollen) eines der ältesten Privilegien der Kindheit weggezockt: den Tretroller. Kickboard, Skate Scooter oder Ciro-Roller heißt das Spielzeug jetzt, und weil es mit getunter Aluminiumkarosserie nun 400 statt vormals 40 Mark kostet, taugt die biedere Konstruktion endlich zum Fun-Consumer-Fetisch. Massenweise tragen also die Trendautomaten der Generation Fit-for-Fun ihr Selbstverwirklichungsbudget in die Trendsportwarenhäuser, um fortan über Kopfsteinpflaster und schiefe Berliner Gehweg-Platten zum nächsten Briefing hoppeln zu können. Ja, das Feeling macht den Unterschied. Seit "die Großen" vor Jahren die Rollschuhe aus dem Kinderzimmer gemopst haben und sie zu trendfähigen Inline-Skates deklarierten, ist das Rollkommando des Hippie-Kapitalismus kaum noch aufzuhalten.

Nun begrüßen wir den Rollerdandy, der mit behänden Fingern den Roller-Knauf aus Edelhölzern bedient, und mit schwungvollen, ein klein wenig überpointierten Beinschüben seinen Astralleib über den Boulevard schiebt. Da staunt der Alt-Freak, die Kinder wundern sich. Obendrein ist das Gerät ökologisch korrekt, tut dem Kreislauf gut und ist total praktisch, weil es zusammengeklappt ins ebenso praktische Roller-Bag reinpasst. Soviel good vibrations - darf man da eigentlich so miesepetrig mäkeln und nörgeln und Haare in der Suppe suchen?

Das eiligst gegründete Komitee "Städte zu Hüpfburgen" meint ganz entschieden: Nein! Die urbane Micro-Mobilität stecke erst in den Kinderschuhen und müsse konsequent weiterentwickelt werden. Die Kinder selbst sollen gefälligst Web-Seiten gestalten anstatt störrisch auf ihrem Rollerprivileg zu beharren, denn die Gesellschaft verlangt noch weit mehr von ihnen: "Wer beim Roller haltmacht", so Schirmherr Dr. Snuggles gegenüber dieser Zeitung, "verliert in Sachen Micro-Mobilität den globalen Anschluss. Wohin das führt, sieht man ja jetzt bei den Informatik-Indern." Die Ressourcen unserer Kinderzimmer, so seine Diagnose, sind noch längst nicht voll ausgeschöpft.

Radikale Visionäre wie Snuggles träumen von einer Yuppie-Armada auf spiralgefederten Hüpfstöcken, sonnenbankbraune Edelflummies, die das Erlebnispotenzial der privatisierten Innenstädte optimal nutzen. Boingboingboing - und ab in die Lounge. Wem das Stehen auf dem presslufthammerähnlichen Gerät zu sehr auf die Bandscheiben geht, greift zum rückenfreundlichen Plastik-Hüpfball und snuggelt als Gugel-Hupf mit Aktentasche ins Büro. Wenn dann der Versicherungsvertreter kopfüber gekreuzigt im Mahagony-Rhön-Rad vorbeieiert, machen alle "just for fun" einen gewagten Doppelsalto und jauchzen: Hallo Herr Kaiser! Währenddessen verteilt der Polizist mit den blaublinkenden Elektrostelzen Erlebnis-Knöllchen an falsch geparkte Tretbuggies. Der Ku´damm wird abgerissen und als aufblasbare Hüpf-and-Buy-Meile rekonstruiert. Kindheit für alle! Die echten Kinder, nunmehr zu Erwachsenen degradiert, werden dann aus ihren mit Bill-Gates-Postern plakatierten Zimmern herausschauen, auf eine Welt, in der die Freakwerdung des Bürohengstes endgültig Realität geworden ist.

Eine nicht-repräsentative Umfrage unter Berliner Exzentrikern hat übrigens ergeben: Der wahre Freak geht zu Fuß. Die Entwicklungsteams, so hört man, arbeiten bereits an Konzepten für die baldige Markteinführung.
Klemens Vogel

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