Ausgabe 07 - 2000berliner stadtzeitung
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Ein notwendiges Korrektiv

Der Grundrechtereport 2000 als alternativer Verfassungsschutzbericht

Vor wenigen Tagen hat der Innensenator seinen Verfassungsschutzbericht vorgestellt. Obwohl er noch nicht schriftlich vorliegt, dürfen wir vermuten, daß er sich mit "Rechtsextremismus", "Linksextremismus" und "Verfassungsfeindlichen Bestrebungen von Ausländern" beschäftigt. Er enthält also wenig Neues und ist deshalb im Grunde überflüssig. Anzunehmen jedoch, man könne diese ewige Wiederkehr des Gleichen als unwichtig abtun, ist irrig. Denn der "Verfassungsschutz" verfolgt nicht Bürgerinteressen, sondern ist interessengeleitet und heißt in diesem Sinne vor allem: Schutz des Staates vor seinen Bürgern.

Gegen diese offizielle Sicht von Verfassung und Schutz derselben wenden sich die Herausgeber des Grundrechtereports 2000. Sie haben bereits zum vierten Mal Grundrechtsverletzungen zusammengetragen, deren Urheber in erster Linie die Behörden sind. Sie wenden die amtliche Lesart in ihr Gegenteil, indem sie davon ausgehen, daß die Bürger- und Menschenrechte vor staatlichen Übergriffen geschützt werden müssen. Der Staat ist kein Selbstzweck und muß wegen seiner Machtmittel beschränkt werden, gerade indem man auf dier Geltung der Verfassung beharrt.

Daß man sich dabei auf das Grundgesetz beruft, heißt nicht, daß dieses perfekt sei, wie Daniela Dahn aus ostdeutscher Perspektive bemerkt. Dahn bemängelt die Abwesenheit sozialer Grundrechte, die im Bewußtsein der Ostdeutschen eine große Rolle spielten. Deren Freiheitsverständnis käme das Grundgesetz also nur bedingt entgegen, denn erst dreierlei bedeute "die ganze Freiheit: Die Freiheit vom Staat (Abwehrrechte), die Freiheit im Staat (Partizipationsrechte) und die Freiheit durch den Staat (soziale Menschenrechte)". In Pessimismus zu verfallen hält sie aber nicht für angebracht, weil viele inzwischen bemerkt hätten, "dass diese Verfassung viel mehr ermöglicht als begrenzt. Für den demokratischen Sozialismus etwa ist sie bestens geeignet."

Doch was nützt die beste Verfassung, wenn die Wirklichkeit ganz anders aussieht? Die Ostdeutschen, so Dahn, seien vor dem Gesetz eben nicht gleich. Auf vielen Gebieten würden sie benachteiligt: Die Arbeitslosigkeit sei doppelt so hoch wie im Westen, die Löhne niedriger, die Eliten seien nach der Wende nahezu komplett entfernt worden, das Rückwirkungsverbot im Strafrecht gelte für den Osten nicht, der Vertrauensschutz werde unterhöhlt und so fort. Wenn die Verfassung in Ostdeutschland kein großes Ansehen genieße, sei dies kein Wunder.

Doch die Geringschätzung verfassungsrechtlicher Normen ist auch im Westen nicht unbekannt. Beim Skandal um die Spenden an die CDU gehe es nicht allein um Verstöße gegen das Parteiengesetz, sondern um systematischen Verfassungsbruch, schreibt Roland Roth. Erst durch die Transparenz der Parteienfinanzierung erhalte nämlich "ein politischer Entscheidungsprozeß demokratische Qualität." Durch die "strukturelle Korruption" des Systems Kohl sei "eine Achillesferse liberaler Demokratien" berührt und somit eben keine Nebensache.

Neben diesen schleichenden Verfassungsbrüchen listen die Autoren zahlreiche weitere auf, die manchmal gravierende Folgen für die Betroffenen haben. Rolf Gössner berichtet aus Göttingen, wo unschuldige Bürger jetzt Ermittlungen ausgesetzt sind, weil sie vor zwanzig Jahren in die polizeilichen Akten geraten sind. Thilo Weichert thematisiert einmal mehr die Videoüberwachung öffentlicher Räume, die zu einer "Kultur der Kontrolle und des Duckmäusertums" führen kann, weil man sich im Bewußtsein der Existenz der Kameras lieber noch einmal überlegt, ob man seine Rechte - etwa zu demonstrieren - wahrnimmt. Die Präventionsbemühungen haben inzwischen ein solches Ausmaß angenommen, daß der Staat nicht mehr von der Unschuldsvermutung auszugehen scheint, sondern in jedem Bürger eine Gefahr sieht. Martin Kutscha vergleicht die "Schleierfahndung" denn auch mit den Zuständen in der DDR.

Eingriffe in Grundrechte können grundsätzlich jeden treffen, aber häufig müssen Randgruppen darunter leiden. Selten jedoch tritt der Rassismus von Behörden so offen zutage wie bei der bayerischen Polizei. Romani Rose schreibt, daß diese auch heute noch die nationalsozialistische Praxis der Sondererfassung von Sinti und Roma fortsetze. Personendaten und Autokennzeichen würden ohne konkreten Anlaß gesammelt, die Begriffe "Landfahrer" und "Zigeunertyp" weiter verwendet. Niemand braucht sich daher über den gesellschaftlichen Rassismus wundern: Statt die Glatzen zu bekämpfen, empfehlen Behörden und Lokalpolitiker den Opfern fremdenfeindlicher Gewalt, bestimmte Orte zu meiden, schreibt Anetta Kahane. "Der Schutz von ,Feindgruppen« der Rechtsextremen, wie Ausländer, Alternative, Linke, Juden, Schwule, Behinderte und Obdachlose, gehört nicht in das allgemeine Repertoire demokratischer Grundwerte."

Während des Kosovo-Krieges habe die Bundesregierung die Bevölkerung systematisch desinformiert, schreibt Eckart Spoo. Sie habe die Serben zu Monstern stilisiert und Milosevic zu einem neuen Hitler. Sie habe anderslautende Informationen zu unterdrücken versucht und die Öffentlichkeit belogen, um den Angriffskrieg zu rechtfertigen. Man darf nicht glauben, daß das Landesamt für Verfassungsschutz anders, womöglich selbstlos verfährt. Der Grundrechte-Report ist deshalb ein notwendiges Korrektiv.
Benno Kirsch

Till Müller-Heidelberg / Ulrich Finckh / Verena Grundmann / Elke Steven (Hg.): Grundrechte-Report 2000. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, rororo aktuell, Reinbek 2000, 16,90 DM

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