Ausgabe 07 - 2000berliner stadtzeitung
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Siesta oder die Kunst des Mittagsschlafs

Man kennt das ja. Früh aufstehen. Kaffee trinken, um munter zu werden. Den ganzen Tag auf den Beinen, und immer wenn sich das Gefühl von Müdigkeit in die matten Knochen schleicht, trinkt man noch mehr Kaffee. Auf dem Nachhauseweg schläft man ein, mit dem Gesicht an die Fensterscheibe des U-Bahn-Waggons gedrückt, um zu Hause dann topfit zu sein und nicht einschlafen zu können, weil das Koffein erst jetzt seine volle Wirkung entfaltet. Ein Teufelskreis.

Aber es gibt einen Ausweg! Die Spanier haben es schon längst zu einem nationalen Ritual gemacht: die Siesta, die Mittagsruhe, der Mittagsschlaf. In mitteleuropäischen Gefilden ist er immer noch verpönt, denn tagsüber schlafen nur alte Leute, Kranke oder Arbeitslose. Doch der Mittagsschlaf ist wieder im Kommen. Eigentlich macht es ja jeder ab und zu, aber langsam geben sich immer mehr Leute die Blöße und entlarven sich als Mittagsschläfer.

So auch eine handvoll experimentierfreudiger und mittagsschläfriger Künstler, die sich endlich ein Herz gefaßt haben, um anderen Mittagsschläfern das Coming Out zu erleichtern. Sie haben sich die spanischen Siestasäle zum Vorbild genommen und einen Schlafsaal in die hektische Mitte Berlins gezaubert. Willkommen ist jeder, der 8 Mark in der Tasche hat und das Bedürfnis zu schlafen, oder wenigstens die plattgelaufenen Füße auszuruhen.

Sobald man die Treppen in den ersten Stock des alten Fabrikgebäudes mit letzter Kraft erklommen hat, kann man sich erst einmal mit Prosecco oder Beruhigungstees die letzten Minuten vor dem erholsamen Schlaferlebnis versüßen. Dann öffnen sich die Türen, und man tritt in einen großen Saal. 24 Betten stehen bereit, die aussehen, als hätten sie schon in einem Lazarett im Zweiten Weltkrieg gestanden. Überhaupt mutet der ganze Raum an, wie ein Schlafsaal in einem Krankenhaus aus den 30er Jahren. Menschen in blauen Anzügen, die sogenannten Saalschwestern, geleiten die Müden zu ihren Betten und ziehen die weißen Vorhänge zu, sobald alle in ihren Betten liegen. Spätestens jetzt fühlt man sich in die Kindergartenzeit zurückversetzt. Niemand traut sich mehr, einen Mucks zu sagen. Also starrt man die Decke an, von der die Farbe abblättert, und wartet, bis man genug Ruhe gefunden hat, um die Augen zu schließen. Hoffentlich schnarcht niemand, schießt es durch die noch aktiven Gehirnwindungen.

Eine Stunde später wird man durch das Knarren und Beben des Bodens und die zunehmende Geschäftigkeit aus dem Halbschlaf geholt. Schlafen war nicht drin, aber man fühlt sich ausgeruht, nicht mehr so rastlos und unruhig wie vorher. Es hat geklappt. Das Tief ist überwunden, und das ohne Kaffee! Auf dem Weg nach draußen tauscht man freundliche Blicke aus. Die intime Erfahrung des Schlafens verbindet, und so kommt man im Vorsaal mit seinen Schlafgenossen bei einer Tasse Revitalisierungstee ins Gespräch.
Inga von Kurnatowski

4.-23. Juli, Sophiensaele, Sophienstr.18, Vorbestellung: fon 30 87 22 31. 25. Juli bis 30. August, Elisabethsaal, Invalidenstr.3, Vorbestellung: fon 28 59 80 76. Außerdem 13.-23 Juli, jeweils um 21 Uhr, das dazugehörige Theaterstück, Eintritt: 25/15 DM, Vorbestellung unter fon 283 52 66.

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