Ausgabe 07 - 2000berliner stadtzeitung
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Spanisch lernen mit Kreide, Hammer und Wecker

Vereinskneipe bietet Sprachkurse, Filme und Couscous

Gespannte Stille, alle sechs Schüler sehen gebannt auf Raquel. Die Aufrufe beginnen, hin und her zu flitzen. An die Tafel sind die Zahlen von eins bis zehn gemalt. "Cuanto son uno e cuatro?" - "Cinco." Der Antwortende wird mit einem Kopfnicken der Lehrerin zum Weiterfragen aufgefordert: "Cuanto son seis meno tres?" - "Dos. No, no, tres." Ein Lächeln entspannt die geröteten Gesichter. Es geht hitzig zu in diesem Spiel.

Raquel, die junge Journalistin aus Gran Canaria, dirigiert souverän den besonderen Sprachkurs. Besonders in vielerlei Hinsicht. Wir finden uns an einem Mittwochabend im Juni nicht etwa in einer Sprachschule ein, einem Schul- oder Bürogebäude Berlins, sondern in einer kleinen bunten Kneipe, die einem Verein gehört. Der Barraum ist kaum größer als der Schulraum, beide sind nur durch eine Tür getrennt. Im Schulzimmer dominiert eine riesige Bücherwand, die neben Ruth Werner und Erich Honecker auch die Geschichte der SED, Abriß, verwahrt. Ein alter Teppich und der riesige, dicke Tisch mit Samtbespannung runden das Bild ab. Auf dem Tisch stapeln sich ein Wecker, Zeitungen und Zeitschriften, eine Schublade mit kleinen Utensilien, ein Tablett, ein Hammer und bunte Kreide.

Liebe zum Detail

Damit kann man eine Fremdsprache lernen? Man kann, und es macht offensichtlich Spaß! Die Dozenten des Conglomerat e.V. reden nur in der zu erlernenden Sprache. Die Kurse beginnen stets damit, daß die Schüler verschiedene Dinge anfassen, ertasten und riechen - mit verbundenen Augen. Auch andere Lehrmethoden dieser Kurse sind spielerisch: z.B. wird ein Bild vorgesetzt, das die Schüler erklären müssen. Der Dozent kennt es nicht, soll das Bild aber am Ende an die Tafel malen, muß also verstehen und korrigieren. Mit viel Humor wird unter der Handvoll Schüler eine vertraute Atmosphäre geschaffen. Die Methodik ist fließend, verändert sich ständig.

Neun Mark die Stunde

Andreas Knauer, genannt Andy, führt diesen Laden seit knapp einem Jahr. Am 12. Juli wird das Jubiläum begangen. Vorher war in den Räumen ein Obdachlosentreff für Kinder, "ein richtiger Punkladen", sagt Andy. Der Verein Conglomerat speist sich aus seiner Phantasie. Andy schwärmt von den "superfesten Steinwänden", die das Klima im Sommer angenehm kühl und im Winter warm halten. Der mittelgroße Raum mit den grün pigmentierten Wänden kühlt tatsächlich. Einige Sessel und beinahe dreißig verschiedene Stühle sind um fünf Tische gruppiert. Der Boden ist ein Puzzle aus kleinsten Fliesenteilen, die in regelmäßigen Abständen schwarze Sterne bilden. Die Liebe zum Detail hat sich Andy bei einem Besuch der Alhambra abgeguckt. Die Bar ist aus Eisenteilen, schmalen Toilettenfenstern und Brokatstoff gebastelt. Bei schönem Wetter werden auch auf dem Bürgersteig Tische aufgestellt.

Andy hat deutsch auf Lehramt studiert, das war nicht sein Ding. Ein fester Lehrplan schreckt ihn ab. Er spricht Französisch, Spanisch und Englisch, Ungarisch lernt er zur Zeit. Der Verein bot ihm eine seriöse Variante auf dem "Existenzgründerpfad". Im Conglomerat finden drei bis fünf Sprachkurse statt, nur Deutsch als Fremdsprache wird zweimal pro Woche unterrichtet. Der Verlag "assimil" ist den Dozenten Vorbild für ihren Unterrichtsstil, führt Andy aus. "Die arbeiten nur durch Sätze, gehen deduktiv ran." Im Gegensatz dazu werden im konventionellen Unterricht erst einzelne Wörter, dann ganze Sätze gebildet. Hier wird im Unterricht ein Schüler persönlich angesprochen, "Warum hast du denn heute ein blaues Hemd an?" Der Schüler erklärt, was er versteht und der ganze Satz wird wiederholt. "Der Mensch hat drei Gedächtnisspeicher, kurz, mittel und lang. Die Entscheidung für den Speicher fällt über Emotionen." Mit kleinen Gruppen von vier bis sechs Personen läßt sich der entscheidende emotionale Hintergrund gut erzeugen. Andy hatte anfangs viele Vorlagen gegeben für den Spanischkurs, sich dann aber zurückgezogen. "Du mußt die Idee richtig erklären, Moderator der Atmosphäre sein, Fragen beantworten, loben, tadeln und korrigieren. Die Perspektive ist wichtig!"

Keine Werbung

Seit fünf, sechs Monaten gibt es die Sprachkurse. Raquel ist Honorarkraft wie alle Dozenten und wurde über eine Annonce gefunden. Ein Kurs kostet insgesamt rund 350 Mark, das sind neun Mark pro Unterrichtsstunde.

Seit Juli gibt es auch Filmabende im Verein, die nur für Mitglieder veranstaltet werden. Mitglied im Conglomerat kann man übrigens auch am Abend selbst werden: in die Liste einschreiben und zehn Mark pro Jahr entrichten. Präsentiert werden monatlich ein Spielfilm, Programmkino, eine Kurzfilmnacht mit Abschlußfilmen der Filmhochschulen (Schwerpunkt Animation), ein Serienabend (z.B. "Twin Peaks" oder "Herr Rossi sucht das Glück") und ein Super-8-Abend. Im Sommer beginnen die Filme gegen 21 Uhr, im Winter um 20 Uhr. Bei den Kurzfilmen sollen die Pausen in etwa so lang sein, wie die Filme, "da kann man Caipirinha trinken", freut sich Andy. Leinwand und Filmprojektor stehen schon bereit. Werbung macht er nicht, es gibt kein Schild mit den Öffnungszeiten und keine Karten. "Ich weiß nicht, womit Werbung machen, ich kann mir kein Schild umhängen." Diese Haltung macht den Charme des Conglomerats aus, Andy wollte keine Kneipe zum Geldverdienen betreiben. Gastronomie ist ein weiter Begriff, meint er: Hund und Schmetterling sind beides Tiere...

Nach der Sommerpause wird auch wieder gekocht: zweimal die Woche sind Couscous-Abende geplant. Die Vereinskneipe ist regelmäßig Samstags geöffnet, Sonntags gibt es Frühstück und abends Filme.
Anne Hahn

Conglomerat e.V., Wolliner- Ecke Griebenowstraße (Nähe Zionskirche), Mitte

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