Ausgabe 07 - 2000berliner stadtzeitung
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Immer wieder schlimm: Das Leben!

Ein ausufernder Comic-Roman von Baru

Dieses Buch beginnt mit einer Explosion. Ein ausgedienter Hochofen bei Nancy wird gesprengt. Und doch ist der Auftakt beschaulich, verglichen mit dem, was noch kommen wird. Während die Arbeitersöhne Karim, ein 22jähriger Araber mit dem zweifelhaften Ruf eines Gigolos und halbkriminellen Lebemannes und Alexandre, 17 Jahre alt, eher unansehnlich und Karims stiller Bewunderer, die Sprengung beobachten und Karim Alexandre großzügig zu einer Sauftour mitnimmt, um hernach seinen Pflichten als Frauenliebling nachzugehen, erwartet Doktor Faurissier bei der Veranstaltung einer rechtsextremen Partei seine Ausrufung zum Kandidaten der Regionalwahlen. Die Veranstaltung aber wird von Kommunisten überrannt, sein hilfloses Verhalten kostet ihn die Gunst des Parteivorsitzenden. Entsprechend deprimiert geht er nach Hause.

Einziges, jedoch leider entscheidendes Problem dabei: Karims Liebhaberdienste werden an jenem Abend ausgerechnet von Faurissiers Ehefrau in Anspruch genommen, was dieser beobachtet. Alexandre warnt Karim, und damit beginnt die gemeinsame Flucht der beiden vor Faurissier und seinen Schlägern, die sie zu unzertrennlichen Freunden zusammenschweißt, so daß wir es hier nicht nur mit einem gezeichneten Road-, sondern auch Buddy-Movie zu tun haben. Der französische Zeichner Baru läßt die Flucht auf 430 Seiten zur haarsträubenden Odyssee mit unzähligen Verwicklungen und hervorragend charakterisierten, herrlich schrägen Nebenfiguren ausufern.

Erst mit über 30 Jahren begann Baru, Sohn italienischer Einwanderer, Comics zu zeichnen, angeregt von in den siebziger Jahren in Frankreich aufkommenden politisch-satirischen Comic-Magazinen für Erwachsene. Der 53jährige sieht sich als engagierten Autor, der erzählt, um etwas mitzuteilen über die Themen, die ihn beschäftigen, allen voran der Rassismus in Frankreich. Trotz seines Hanges zum Derben hat Baru dieses Anliegen in fein beobachteten Alltagsgrotesken umgesetzt, im Falle von "Autoroute du Soleil" allerdings wird die von reißerischer Action dominierte Handlung diesem Anspruch nicht gerecht.

Was den Comic-Roman dennoch zu dem allseits gelobten Meisterwerk macht, ist, neben der überbordenden Fabulierfreude, Barus vollendetes Talent zur perfekten Inszenierung. Details und Hintergründe sind mit äußerster Präzision, dabei oft aus den unmöglichsten Perspektiven gezeichnet. Vor dieser dichten, hart realistischen Kulisse läßt Baru die enorme Ausdrucksvielfalt in den gnadenlos karikierten Fratzen seiner Protagonisten geradezu explodieren. Auch wenn es diesmal im Fach Sozialkritik für Baru Punktabzug gibt, sollte man sich dieses pralle Stück plastischer Erzählkunst keineswegs vorenthalten.
Kai Pfeiffer

Baru: Autoroute du Soleil, Edition Moderne, Zürich 2000, 430 Seiten, 49,80 DM

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