Ausgabe 07 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Unter Kulturverdacht

Comic-Publikationen in Kleinstverlagen

Es gab in Deutschland wohl nie zuvor so viele Künstler, die sich mit dem Medium Comic im weitesten Sinne befassen. Womit der künstlerisch weiteste Sinn fernab risikofreier Konfektionsware gemeint ist. Paradoxerweise sind zugleich die Publikationsmöglichkeiten nicht nur für Nachwuchszeichner sehr gering.

Wohl sind die Zeiten vorbei, da die Comics pauschal unter den Begriff "Schundhefte für Kinder" eingeordnet wurden. Der Comic wird Schwerpunktthema der diesjährigen Frankfurter Buchmesse sein; immer noch zu selten sind aber Ereignisse wie die "Mutanten"-Ausstellung in Düsseldorf, die ein repräsentatives Bild der deutschsprachigen Comic-Avantgarde bot, welche in den 90er Jahren eine Explosion an Eigenständigkeit und zugleich Qualität erfuhr. Dies liegt zum einen daran, daß der Comic nach wie vor kaum finanzielle Förderung erfährt, wie sie in anderen Sparten wie Theater, Film oder freier Kunst eine Selbstverständlichkeit ist.

Kaum Werbeetat

Zum anderen aber wurden diese Künstler von den großen deutschen Comic-Verlagen nie ernsthaft gefördert. Eher hektische Versuche des Carlsen Verlages in den 80er Jahren, eine deutsche Zeichnerszene in Hamburg aus dem Boden zu stampfen, landeten alsbald im Ramschverkauf, eine Autorenpflege findet nicht statt. Die Nachwuchsförderung wird großzügig den Kleinverlagen überlassen. So mußte sich ein junger Berliner Zeichner vom größten deutschen Comicverlag unlängst sagen lassen, daß sein Werk zwar hervorragend ins Programm passen würde, aber leider kein Werbeetat vorhanden sei, um ihn bekannt zu machen. Dies sollte er sich doch bitte von Kleinverlagen wie Reprodukt in Berlin oder Edition Moderne in Zürich besorgen lassen. Diese jedoch operieren finanziell an der Grenze des Machbaren und sind mit den bestehenden Publikationsvorhaben eigenlich bereits überlastet.

Der andere relevante Berliner Comicverlag neben Reprodukt, "Jochen Enterprises", stellte sein Programm soeben aus Frustration über die miserablen Verkaufszahlen komplett ein. Damit sind etliche wichtige Künstler plötzlich ohne Verlag; zudem war gerade "Jochen Enterprises" stets sehr (vielleicht zu sehr) nachwuchsfreundlich.

Der Zwang zum Eigenverlag bzw. zur Gründung von Kleinstverlagen durch Zeichnergemeinschaften liegt auf der Hand. Wenigstens führt die deprimierende Lage zu erhöhter Kompromißlosigkeit bei der eigenverantwortlichen Umsetzung des künstlerischen Anliegens. Die Bereitschaft zur Selbstausbeutung ist groß, was die Vielzahl oft aufwändig gestalteter Eigenproduktionen beweist. Nach dem finanziellen Risiko und dem erheblichen Arbeitsaufwand der Herstellung jedoch stellt sich dem Zeichner das eigentliche Problem, nämlich, die Bücher an die Leser zu bringen. Vertriebe für derartige Einzelprodukte existieren praktisch nicht.

Mailorder-Service

Aus diesem Grund haben die Macher des Reprodukt Verlages den Mailorderservice "Das Sortiment" gegründet. In dem eleganten, mit Abbildungen und informativen Kurzbeschreibungen versehenen Katalog wird eine hochwertige Auswahl schwer erhältlicher Publikationen präsentiert. Hier findet man die konzeptionell-assoziative "Poésie", ein dickes Siebdruckbuch von Atak, oder Kollektivbücher der israelischen Zeichnergruppe Actus Tragicus, deren Mitglied Yirmi Pinkus, Professor für Illustration in Tel Aviv, bereits als Gastdozent an der Hochschule der Künste lehrte. Ein "Geheimtip" des Autors sind die abgrundtief minimalistischen Geschichten, die der Cartoonist Nicolas Mahler in seiner edition brunft verlegt. "Flaschko, der Mann in der Heizdecke" ist beispielhaft für skurril-phlegmatischen Österreicher-Humor und steht zumindest bei mir selbst unter dringendem Kultverdacht. Ebenfalls aus Österreich kommt die Wahlberlinerin Ulli Lust. Ihre liebevoll gestalteten Büchlein sind jedoch weniger phlegmatisch als vielmehr erotisch, ihr neuer Band "Wildbahn" ist zudem erzählerisch hochvirtuos. Dies nur eine kleine Auswahl aus etlichen genauso interessanten Werken.

"Das Sortiment" bietet somit eine unerlässliche Navigationshilfe für jeden, der an Entdeckungen jenseits der allzuwenigen etablierten Verlage interessiert ist.
Kai Pfeiffer

Katalog "Das Sortiment" bei Reprodukt, Bülowstraße 52/Aufgang 5, 10783 Berlin, fon 216 92 78, fax 216 75 01

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