Ausgabe 07 - 2000berliner stadtzeitung
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Trüffelschweine in Sachen NDD

Szenische Lesungen als lockeres Coming-Out für Theatertexte allmonatlich in "Meiers schöner Fleischsalon"

Textbücher in den Händen von Schauspielern, die von Dialog zu Dialog über die Bühne mitgeschleppt werden, gelten eigentlich nicht als Spannungselement par excellence. Klingt das nicht nach spröder Auftaktprobe, nach einer pseudo-kreativem Deutschstunde, nach biederem Sex in Liebestötern? Dachte man so - bis Agnes kam: Stumm und unbeteiligt und schön drückt sie sich am Rande der Probebühne des Theaterdocks herum, stumm sein ist ihre Mission in "Brennende Köpfe" von Andreas Sauter, bis einer sie anspricht, sie fordert: Sie tritt heran, klappt das Textbuch auf, starrt in die Bleiwüste, blickt auf, blickt nieder, klappt das Buch wieder zu - und geht. Keine Zeile wird sie vorlesen in dieser jüngsten Folge von Meiers schönem Fleischsalon und trotzdem macht sie mit dieser kleinen Geste das Textbuch zum Giganten. Eine pantomimische Verbeugung, ein schönes Paradoxon: Denn die Reihe "Meiers Filet-Stücke" will den Text als den eigentlichen Star in Szene setzen - wohlgemerkt: in Szene setzen, nicht vorlesen, ableiern oder runterbeten.

Die Eingeweide der neuen deutschen Dramatik (darf man schon NDD sagen?) erkundet der Fleischsalon in diesem Jahr, nachdem in der letztjährigen Reihe "Familie Meier goes east" die osteuropäische Theaterlandschaft ausgeschlachtet wurde. Also NDD, wo soll es denn hingehen? Jörg Karrenbauer und Eva-Karen Tittmann vom Theaterdock schütteln energisch den Kopf. Deutschsprachige Dramen böten derzeit alles, und nicht zuletzt viel zweifelhafte Qualität, aber keine klare Tendenz. Vom psychologischen Kammerspiel nach klassischem Muster bis zu eigentlich anti-dramatischen Entwürfen wie Tim Staffels "Das Mädchen mit dem Flammenwerfer" ist alles möglich, oder es wird möglich gemacht, denn: "Mittlerweile wird alles gedruckt, Hauptsache es ist jung, und es wird jedem in die Hände gedrückt, der nach deutscher Dramatik fragt", findet Karrenbauer.

Viel beschriebenes Papier mussten die Meiers wälzen, diskutieren und wieder verwerfen, bis die Filetstücke feststanden. Ein gutes Drama, so Regie-Kollegin Tittmann, entwickle einen Sog, es verberge ein Geheimnis, verweise auf eine Metaebene, die es zu entschlüsseln gelte. Karrenbauer fasziniert besonders die innovative Form, das Sprachspiel im Detail oder sperrige Konzeptionen.

In zwangloser Salonatmosphäre präsentieren Meiers NDD-Trüffelschweine allmonatlich eine ihrer (noch nie aufgeführten) Fundsachen, nicht als Leseprüfung in bedächtiger Kennerrunde, sondern als lebendige Bühneneinrichtung. "Anreißen" oder "Aninszenieren" nennen sie das und halten sich zugute, so dem Genre "szenische Lesung" eine spielerischen, bühnennahen Touch zu verpassen. Das Textbuch soll sexy werden. Das klappte in der vergangenen Folge mit der schweigenden Agnes nicht nur, weil ein ewig geiler Rohrverleger permanent seine "Maus" befruchten wollte. Sprechfunkeinblendungen, ein geriatrischer Rollstuhl für die Else-Kling-Rolle, viel Jägermeister und eine Traumvision namens Xaver, seines Zeichen der Tod persönlich und so heiter intellektuell wie man sich Roger Willemsen nach dem Besuch von Auerbachs Keller vorstellt, all diese sinnlichen Details machen die Textpräsentation zum lockeren Coming-Out. Jedoch: Die Rhythmik der Sprache folgt dem Medium Schrift und nicht so sehr der Schauspielerpersönlichkeit, das macht die Eigenart des Fleischsalons aus. Denn binnen dreier Tage erarbeiten sich die Beteiligten den Szenenabend - da kann und soll keine tiefschürfende Darstellerei eingebimst werden.

Die Firma Jägermeister konnte übrigens auch für die noch ausstehenden fünf Abende als Sponsor gewonnen werden. "Ein deutscheres Getränk gibt es fast nicht", meinen die Meiers. Und Jägermeister hat mal wieder die Nase vorn: In den 70er Jahren erster Trikot-sponsor in der Bundesliga, jetzt erster Exklusiv-Likör für die Verdauung von szenischen Lesungen. Na denn: Mahlzeit.
Klemens Vogel

Meiers Filet-Stücke in "Meiers schöner Fleischsalon", Theaterdock in der Kulturfabrik; jeden 1. Mittwoch im Monat um 21 Uhr; Demnächst u.a. mit Stücken von Andrea Hesse, Steffen Kopetzky, Helmut Krausser und Claudius Hagemeister

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