Ausgabe 06 - 2000berliner stadtzeitung
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Familientreffen

Schmidt ist einer der ältesten deutschen Namen. Viele schmücken sich unberechtigterweise mit ihm, deshalb hat er leider an Ansehen verloren. Unsere Familie nimmt ihn aber noch ernst und kümmert sich rührend um seinen Fortbestand. Einmal im Jahr treffen wir uns, um die Erfolge anzusehen. Früher fand das in einer Wohnung statt, dann in einer Clubgaststätte, in diesem Jahr hatten wir die ganze Jugendherberge von Bad Kösen gemietet. Es ist eine Erlebnisherberge, in der seit der Wende lediglich das Alu-Besteck ausgetauscht wurde, die Mortadella und die Marmeladenschälchen sind noch die gleichen wie vor zehn Jahren. Überhaupt ist in Bad Kösen die Welt noch in Ordung: Wenn es regnet, regnet es richtig, die Penner vor dem Bratwurstgrill nehmen ihren Beruf noch ernst, im Kurpark drehen Geher ihre Runden, die verzweifelt versuchen, wenigstens in einer Randsportart auf den Olympiazug aufzuspringen, und aus einer Bar mit dem Namen "Gummistiefelbar" kommt ein Mann mit Gummistiefeln.

Ich bin in meiner Familie als der Junge mit den gelben Haaren bekannt, der den Kindern die Zunge rausstreckt, aber die wenigsten wissen, daß ich es damit ernst meine. Die Kleinkinder, die Angst bekommen und sich hinter der Mutter verstecken, sind die zukünftigen Schriftsteller und Philosophen, ich schließe sie sofort ins Herz, diejenigen, die überhaupt nicht reagieren, werden einmal gute Eltern, die, die mir spontan auch die Zunge herausstrecken, werden im Beruf Erfolg haben, die, die das so übermütig tun, daß sie von der Mutter einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, werden Rechtsanwälte, weil sie früh mit der Ungerechtigkeit der Welt in Berührung gekommen sind.

Aus fünf Geschwistern haben sich bei uns 42 Angehörige entwickelt, einzelne Familienzweige springen beim Kindermachen für weniger hartnäckige in die Bresche, meine Geschwister und ich sind zum Beispiel so kinderlos, daß schon mit dem Finger auf uns gezeigt wird. Nur meine Cousine Christine und ihr Bruder Rolf haben auch keine Kinder, dafür betreibt sie erfolgreich eine private Psychotherapiepraxis, in der sie nach der Urschreimethode arbeitet, und er hört im Auto Udo Jürgens. Cousine Ursula hat dagegen schon drei Kinder und das vierte im Ofen. Am Beruf kann das nicht liegen, denn auch sie ist Psychiater, sie leitet sogar eine ganze Krankenhausabteilung. Ihr kleiner Bruder, ebenfalls ein Psychiater, wollte sich einmal von seiner Freundin trennen, aber nachdem es beschlossen war, verpaßten beide einen bestimmten Zug, verstanden das als höheres Zeichen und bekamen drei Söhne. Sein Bruder hat dafür nur einen Sohn, aber er ist ja auch kein Psychologe und lebt infolgedessen inzwischen getrennt von seiner Frau, was in unserer Familie eigentlich nicht vorkommt, genausowenig wie es Raucher gibt. Sein Sohn spielt den ganzen Tag mit einem Pokémon-Gameboy, ich sehe ihm zu, er kämpft gerade gegen die "Exorzistin". "Was heißt das eigentlich", fragt er mich, "Exorzistin?" Ich sage "Die treibt den Teufel aus." "Ach so, dann laß ich mein Psycho-Pokémon gegen sie kämpfen!" Das kann nämlich "Träume absaugen."

Ursula lebt mit ihrem Mann in einem selbstgezimmerten Holzhaus, sie sammeln Anti-Auto-Zeitschriften und haben keinen Kühlschrank. Auf dem Dach haben sie Sonnenkollektoren, die sich, wie ihr Mann erläutert, finanziell noch nicht rentieren, dafür aber in der energetischen Bilanz. Die beiden haben sich während des Golfkriegs kennengelernt, als sie gemeinsam den Zaun einer NATO-Luftbasis zerschnitten. Zur Zeit lebt bei ihnen ein Franzose, der praktischerweise Francis heißt und energetisch noch effektiver lebt, er bewegt sich nämlich nur auf dem Fahrrad vorwärts, schneidet sich die Haare selber, wahrscheinlich auch die Fingernägel, und ist auf der Durchreise nach Rußland. Eigentlich will er nach Finnland, aber da traut er sich alleine nicht hin. Finnland hat in Frankreich möglicherweise einen schlechteren Ruf als bei uns. Sein Fahrrad hat er mit Kühlschrankblech vom Müll ausgebaut, es sieht aus wie ein kleiner Panzer. Es hat auch Sonnenkollektoren und unter der Stange eine Energiezentrale, wo man den Strom für den Verstärker abzapft, denn Francis lebt von Straßenmusik. Er erklärt: "Sehr einfach, ´ier Werlän-gerung eh ´op, pfft..." Leider kann er auch ohne Verstärker Musik machen, nämlich mit einem Dudelsack, was er während des Mittagessens im Weinkeller einer Burg demonstriert. Während fünfsekündiger Pausen beißt er ab, fünf Minuten lang kaut er und spielt Dudelsack dabei. In der Nacht droht er zu ersticken, so klingt es, wenn er schnarcht. Ich liege im gleichen Zimmer und denke sehnsüchtig an die Preßlufthämmer, die mich momentan zu Hause morgens wecken, weil mein Nachbarhaus renoviert wird.

Eberhard, unseren Westonkel, erkannte man früher von weitem schon an seinem Auto, das geht jetzt nicht mehr. Er ist 1961 rübergegangen, als einziges der fünf Geschwister. Er war immer sehr beliebt, weil er uns mit Werbegeschenken seiner Pharmaziefirma überhäufte: Kugelschreiber und Notizblöcke auf denen "Behring-Diagnostika" stand, was zwar nicht so cool war wie "USA", aber da es aus dem Westen kam konnte man ein Auge zudrücken. Nach der Wende erklärte er Rolf, dessen Betrieb NARVA gerade pleite machte, wie er das Ruder rumreißen könne: "Was kostet bei euch eine Glühbirne?" "90 Pfennig" "Na siehst du, bei uns kostet sie eine Mark, wenn du zehn verkaufst hast du eine Mark Gewinn, oder?" Rolf mußte zustimmen. "Bei hundert Glühbirnen zehn Mark." "Ja" "Bei 1000 100 Mark, bei Zehntausend tausend Mark." NARVA machte trotzdem pleite, dabei war das Rezept so einfach. Dafür hat Eberhards Sohn Richard früh geschaltet. Er stand immer im Ruf geizig zu sein. Als Kind war er einmal bei uns und vor der Abfahrt bastelte er eine Flaschenpost. Dann bekam er mit, daß es auf die Flasche Pfand gab. Er popelte den Brief wieder heraus und sagte, daß er im nächsten Jahr eine Wegwerfflasche mitbringen würde, der Brief mußte warten.

Am Abend wird gesungen. Da es draußen regnet und auf den anderen Etagen kleine Sachsenkinder herumtollen, setze ich mich dazu. Tante Annelie legt mit "Drei Gänslein im Haberstroh, saßen und waren froh" ein schrilles Solo vor. Dann kommt "Die schöne Lilofee". Onkel Heinz, der älteste, berichtet gerührt, daß er vor 65 Jahren zum ersten Mal "Die schöne Lilofee" gehört habe, bei Lemberg auf einer Insel im See, seine Onkels hätten es gesungen, Pastors Käthchen, meine Oma, war auch dabei, und heiratete daraufhin meinen Opa. Die Liedvorschläge werden immer absurder "Ich armes welsches Teufli", "Es es es und es" und der Kanon "Zieht euch warm an, denn die Kälte greift den Darm an". Über "Wetscherni Swon" können mein Vater und ich die Gesellschaft in eine andere Richtung drängen. Zusammen mit Eberhard singen wir anschließend "Bau auf, bau auf" und das "Solidaritätslied", wir bringen sogar die "Internationale" durch. Onkel Heinz kennt einen anderen Text dafür "Die Oberlandzentrale versorgt Berlin mit Strom." Hinterher mokiert er sich: "Da kann ich nicht mithalten. Ich sing auch gleich meine HJ-Lieder." Und nach "Brüder zur Sonne zur Freiheit" macht er die Drohung wahr. Recht hat er, schließlich war er damals acht, und wenn ich "Spaniens Himmel" singen darf und er nicht seins, ist das ungerecht.

Am letzten Tag gehen wir mit Onkel Peter nach Schulpforta, wo vor ihm schon Nietzsche zur Schule gegangen ist. Er vermacht mir ein Heftchen mit seinem neuesten Werk, einem historischen Streifzug durch Naumburg, in dem die 1000jährige Geschichte der Stadt in kleinen Szenen dargestellt wird, von ihrer Gründung bis zum CDU-Spendenskandal. Es ist ein ehrgeiziges Projekt, das bei Aufführungen von den Mittelalterkindern, die seine Frau ausbildet, flankiert wird.

Schulpforta ist ein ehemaliges Kloster, aus dem die Schüler erst nach dem Abitur herausgelassen werden. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, dort zur Schule gegangen zu sein. Ich wäre so schlau wie Peter geworden, könnte mich, wie er es tut, in Spanien mit Geistlichen auf Latein unterhalten. Und ich hätte in der zwölften Klasse mit meinen Griechischkenntnissen geglänzt, die so weit gereicht hätten, Platons Orthographiefehler zu korrigieren.

Zum Abschluß werden auf einer Treppe die verschiedenen Generationen bzw. Familien fotografiert. Bei manchen droht die Treppe einzubrechen, wir müssen uns etwas breiter machen, damit es nicht so auffällt, daß wir nur fünf sind. Aber beim Abendessen platzt die Bombe. Jemandem fällt auf, daß durch verschiedene ungünstige Umstände bzw. Nachgiebigkeit der Männer unter den unzähligen männlichen Enkelkindern nur eines ist, das auf den Namen Schmidt hört. Und das ist auch noch das pokémonsüchtige Einzelkind. Nur an diesem dünnen Faden hängt der Fortbestand unseres Namens! Es sei denn, mein Bruder und ich hätten ein Einsehen. Denn meine Schwester wird, so wie die Dinge stehen, einmal auf den Namen "Müller" hören, bzw. "Müller-Schmidt". Ganz gebeugt von dieser Verantwortung betrete ich meine Wohnung und mache mir ein letztes Bier auf, bevor ich mich etwas widerwillig auf die Suche nach einer passenden Frau für meine verzogenen Bälger mache.
Jochen Schmidt

Der Autor liest jeden Donnerstag um 21 Uhr in der "Chaussee der Enthusiasten", Wühlischstraße 29, Berlin-Friedrichshain

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