Ausgabe 06 - 2000berliner stadtzeitung
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Bürger in der Kiste

Volkstheater ex negativo im Gorki-Sudio mit Hebbels "Maria Magdalena"

Qualifizierte Beiträge zu Problemlagen der Kleintierhaltung sind von Staatstheatern nicht unbedingt zu erwarten. Das Gorki, der rührige Goldhamster im Berliner Bühnengehege, hat zum Ausklang der Theatersaison das zoologische Hobby zur Bühnenkunst geadelt und erinnert mit Friedrich Hebbels "Maria Magdalena" an eine Spezies, die in freier Wildbahn allenfalls als Promenadenmischung überlebt hat: Das Bürgertum. Das Echte, Originale, Unverfälschte. Die ohnehin beengte Bühne des Gorki-Studios komprimiert Hansjörg Hartungs schwarze Kulissenbox mittels Sichtblenden zu einem Bergwerksstollen, es könnte auch eine Dampfpresse sein, bedrückend, dicht, mit einer einzigen Tür nach außen und vielen kleinen Schiebefenstern wie bei einem Adventskalender, durch die mal die Alpen, mal der Dorfgendarm hereingucken. Möglicherweise blicken wir auch in das Schubfach eines Biedermeiersekretärs, wo Liliput-Bürger ihre Familientragödie abhalten.

Der Regisseur Marc Zurmühle reanimiert mit der 1843 vollendeten Tragödie eine versunkene Welt, einen "Jurassic Park" im Schuhkarton. Handeln aus Prinzip, Raisonement als Kommunikationsmodus, das schlechte Gewissen als individuell eingeschriebene Norm und Irrsinn als Stigma für abweichendes Verhalten - diese Strategien sind heute weitgehend institutionalisiert, Hebbels Personal hingegen bewältigt mit ihnen den Alltag. Die Bühnenkiste mit den Bürgersleut´ ist also ein Reagenzglas, in dem Proto-Konzepte unseres Gesellschaftssystems blubbern - jedoch: Zurmühles Inszenierung begünstigt diese Lesart nicht gerade.

Als Projektionsfläche vom Dienst, für Mitgiftgelüste und gutbürgerliches Paschatum, ist die Schreinertochter Klara (Regine Zimmermann) eigentlich weitgehend ausgelastet. Dann landet ihr Bruder Karl (Stefan Kaminsky) im Knast, und der Bräutigam Leo (Frank Seppeler) sucht trotz ihrer Schwangerschaft das Weite. Die Mutter kippt von der Stange, da hilft auch Nachbarins Fläschchen nicht mehr, und der geschundene Vater ernennt Klara zur Bevollmächtigten in Sachen Familienehre. Zwar erweist sich des Bruders Unschuld, doch Leo ist mittlerweile anderweitig involviert, weswegen dem Mädchen nur der Sprung in den Brunnen bleibt. Die Geschichte ist bekannt, sie ist traurig aber unendlich fern, trotz (oder gerade wegen?) des subjekt-stolzen Inszenierungsstils.

Das Aha-Erlebnis muss sich bei diesem Volkstheater ex negativo jeder selber zusammenreimen, es sei denn man ergötzt sich bereits am unfallfreien Blick ins historische Wohnzimmer. Der Verlust der Familienehre, der Achsbruch im bürgerlichen Hamster-Laufrad, das ist der Super-Gau einer moralisch regulierten, dünkelhaften Welt, deren Reste sich allenfalls die großbürgerlichen Milieus in Derrick-Filmen bewahrt haben. Das unverschuldete Scheitern Klaras erinnert wohl daran, dass einstmals Schuld nicht die Kehrseite von Cleverness war, Zurmühles archäologisches Regiekonzept findet für die Brücke ins Jetzt jedoch keinen szenischen Ausdruck. Der fossile Bürger bleibt halt im Schubfach, in der Enge der Konvention. Klappe zu und füttern nicht vergessen.
Klemens Vogel

Maria Magdalena" von Friedrich Hebbel, Gorki Studio, Am Festungsgraben, 15.6 und 30.6, 20 Uhr, Karten unter 20 22 11 15

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