Ausgabe 06 - 2000berliner stadtzeitung
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Die Schule der Rache

Mythos modern mit Heiner Müllers "Medea Material" am Orph-Theater

Medea ist eine der schillernden Frauengestalten der antiken Mythologie. Eine Zauberin, die alles nur im guten Glauben tat, was andere, Männer obendrein, von ihr verlangten. Und der übel mitgespielt wurde. Euripides hatte sich zuerst des Stoffes von der wilden Königstochter angenommen. Die Geschichte hat alles, was man braucht für ein richtiges Drama mit viel Blut: Flucht, Verrat, Intrigen, Mord, Verzweiflung und ein bißchen Liebe. Medea entbrennt als junges Ding in heißer Liebe zum Argonauten und Rumtreiber Jason, wird von ihm dazu angestiftet, ihre Zauberkraft unredlich einzusetzten und das Goldene Vlies zu stehlen. Danach findet das Paar weit weg von der Heimat in König Kreons Reich Unterschlupf, bekommt 2 Kinder und richtet sich ein. Jason will aber mehr und wirft ein Auge auf die Tochter des Königs. Medea soll aus der Stadt gejagt werden. Hier beginnt das Stück, sowohl das antike als auch die "Version" von Heiner Müller, "Medea-Material", derzeit zu sehen im Orph-Theater.

Erst sind nur sphärische Klänge zu hören. Auf der Bühne liegen drei verschieden große Quader, darauf eine Gestalt, Medea. Langsam wacht sie auf und fordert: "Help me, I need help". Umsonst. Nur die Amme ist da, die sich an sie hängt und nur begütigend Mumumu sagen kann. Medea haßt, haßt alles und jeden, besonders wohl sich selber. Kann sich gar nicht genug aufregen. Und sie ist mächtig, kann den Rest der Welt ins Verderben stürzen. Der besteht aus Kreon, dem König, ihrem Mann Jason, ihren Kindern, der Amme und Jasons junger Geliebter. Medea ist in die Jahre gekommen, fühlt sich nur mit der roten Bürstenperücke wohl und flucht, vornehmlich auf Englisch: I hate this, ungezählte Male. An diesem letzten Tag sinnt sie auf Rache, muß jedoch erst einmal mit der Amme fertig werden, die sich an sie hängt, versucht, sie von ihren Gedanken abzulenken. Bald rennt sie wie ein Tiger im Käfig ruhelos herum, will sich nicht damit abfinden, abgeschoben zu werden, will sich nicht fügen. Und damit meint sie sich und den Rest der patriarchalen Welt, die glaubt, nur einmal wieder nett sein zu müssen, um das Ziel zu erreichen. Wie Jason, der noch einmal zum Gutwettermachen kommt. Hier gespielt als cooler Midlifecrisis - Typ mit Sonnenbrille, der alles verspricht, um sein Ziel zu erreichen: "Du magst das nicht? Ich erschieße sie alle" und ballert, die Finger am imaginären Revolverabzug, wild herum. Da sind beide noch mal jung, ein antikes Duo Infernal, dem die Welt nichts anhaben kann. Medea und Jason als Natural Born Killers der prähellenistischen Zeit. Sie haben miteinander eine lange Reise hinter sich, ehe sie zur Ruhe kamen. Medea aber hat schon zuviel gesehen um dem Spiel zu trauen. Sie hat auch schon ein Geschenk für ihre Nachfolgerin: ihr eigenes, nunmehr mit Gift getränktes Brautleid.

Medea leidet, jedoch richtet sie in dieser Inszenierung nach Müller den Haß nach außen. Sie ist zu eigensinnig und stark um sich demütig in ihr Schicksal zu fügen, auch wenn sie dabei über Leichen gehen muß. Sie will sich von den Zwängen befreien, das Alte abschütteln. Ihre Taten sind so gesehen folgerichtig.

Die Regisseurin Susanne Truckenbrodt kann sich ganz auf die Schauspieler verlassen. Die Rollen werden von nur vier Personen bewältigt. Medea bleibt gleich, die anderen werden von Szene zu Szene von ihrem anfangs opulenten schimmernden Kostümen sukzessive befreit. Mit jeder Schicht haben sie eine neue Rolle, in die sie von einem Helfer in Monteurskleidung hineingestellt werden als eine Art Antike-Actionfiguren. Am Schluß gibt es noch ein wenig Blut und im Business-Kostüm verläßt die Siegerin das Schlachtfeld.
Ingrid Beerbaum

Medea-Material, Orph-Theater im Schokoladen, Ackerstraße 169/170, 22.bis 25.6. und 29.6.bis 4.7. 2000, jeweils 21 Uhr

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