Ausgabe 06 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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1900

Zänkereien und Streitigkeiten gehören leider zum Alltag der Bäckersleute L. in der Palisadenstraße 50. Meist dreht es sich um Geldfragen und oft gehen die Meinungsverschiedenheiten in Tätlichkeiten über. Wegen des Wochenlohns kommt es mittags am 2. Juli zu einem heftigen Streit, in dessen Verlauf der Ehemann einen Kochtopf ergreift und damit den Kopf seiner Frau bearbeitet. Die wiederum setzt sich in ihrer Not mit einem Spaten zur Wehr. Beide Ehehälften bluten schließlich stark aus mehreren Wunden und begeben sich schließlich stark aus mehreren Wunden blutend gemeinsam zur Rettungswache. Dort erhalten sie den nötigen Verband und treten dann Arm in Arm den Heimweg an.

Paris und die Weltausstellung stehen jetzt mehr als je auf dem allgemeinen Reiseprogramm. In annerkennenswerter Weise bemüht sich das Karl Rieselsche Reisebureau, Unter den Linden 57, den Ausflug nach Paris so interessant wie möglich zu gestalten. Die Reisen des Bureaus beginnen von jetzt an mit dem D-Zug alle vier Tage vom Bahnhof Friedrichstraße 8 Uhr 55 morgens. In Köln erhält jeder Teilnehmer im Palast-Hotel 8 Uhr abends ein Souper auf Kosten der Unternehmung. Insgesamt kostet der Ausflug pro Person 300 Mark für acht volle Tage und Nächte Aufenthalt in Paris, inklusive ganzer Verpflegung, viertägiger Führung, darunter drei Tage Wagenfahrten. Die weiteren vier Tage stehen den Reisenden zur freien Verfügung. Unterkunft ist in den vorzüglich gerühmten Hotels Malesherbes, Boulevard Malesherbes 26 sowie Hotel Bradfort, Rue St. Philippe du Roule 10, beide in nächster Nähe zum Haupteingang der Ausstellung sowie des Champs Elysées.

Der Personenverkehr zu Pfingsten ist ein ganz enormer. Durch Omnibusse werden 389 909 Personen befördert, durch Straßenbahnen 2 076 109, durch die Stadt- und Ringbahn 965 000. Das sind mit insgesamt 3 041 109 Personen 718 660 mehr als im Vorjahr.

Auf dem Grundstück Oranienburger Straße 71/72, das die Reichs-Post- und Telegraphenverwaltung vor zwei Jahren für eine Million Mark von der großen Landesloge erworben hat, wird in dem früheren großen Logensaal gegenwärtig das neue Telegraphen-Vermittlungsamt III eingerichtet. Damit wird auch eines der ältesten Ämter Berlins nach der Fertigstellung außer Betrieb gesetzt werden. Alle Fernsprechabonnenten, die an Amt III angeschlossen sind, werden auch beim neuen Vermittlungsamt ihre bisherigen Anschlussnummern weiter behalten. Das neue Amt erhält Mulitplex-Umschlaltetafeln neuester Bauart, wie sie bereits bei der neuen Vermittlungsanstalt VIa verwendet werden. Bei diesem Umschaltsystem werden an Stelle der Rufklappen, die beim Drehen der Inductorkurbel durch den Fernsprech-Teilnehmer beim Amt abfallen, kleine elektrische Glühlampen verwendet, die beim Anruf erglühen und erst erlöschen, wenn die gewünschte Verbindung mit dem zweiten Abonnenten durch die Telephonistin hergestellt ist. Auch ist es bei den neuen Einrichtungen nicht erforderlich, dass der Abonnent nach Ende seines Gespräches das sogenannte Schlusszeichen durch Drehen der Inductorkurbel gibt, um anzuzeigen, dass die Verbindung getrennt werden kann. Jetzt wird mechanisch getrennt, sobald der Teilnehmer den Fernhörer wieder an den Haken an der Seitenwand des Apparates hängt. Die neue Vermittlungsanstalt III, die für den Doppelleitungsbetrieb eingerichtet wird, soll im Herbst 1900, voraussichtlich am 1. Oktober, fertiggestellt und in Betrieb genommen werden.

Überhaupt hat die Zahl der Fernsprechteilnehmer einen erheblichen Zuwachs erfahren. Der von der hiesigen Ober-Postdirection herausgegebene erste Nachtrag zum Telephonbeamten-Verzeichniß verrät, dass in Berlin allein 2500 Abonnenten hinzugetreten sind. Ebenso ist die Zunahme in den größeren Vororten bedeutend, besonders in Charlottenburg, Friedenau, Neu-Weißensee, Rixdorf, Schöneberg, Wilmerdorf, sowie in Potsdam und Spandau. Zum Fernverkehr sind weitere 230 Orte, darunter 15 dänische, zugelassen worden.

Die Radfahrer! Der 25jährige Sohn des Tischlers Robert Förster aus der Richthofenstraße 26 widmet sich mehr dem Radsport als der Arbeit. Als ihm sein Vater deshalb Vorhaltungen macht, wenigstens für das Kostgeld zu sorgen, schlägt der Sohn seinem Vater wiederholt mit der Fahrradluftpumpe über den Kopf. Er verletzt den 50jährigen am Hinterkopf, über dem linken Auge und an der Nasenwurzel so schwer, dass er auf der Rettungswache 1 in der Frankfurter Allee verbunden werden muss.

Der Tenor Franz Nachbaur sträubt sich sehr dagegen, seinen 70. Geburtstag zu feiern: "Sehe ich aus wie ein Siebziger?" Auf die eintreffenden Betäuerungen, dass er noch immer als hübscher, stattlicher Mann gelten könne, sagt er geschmeichelt: "Ich lebte stets regelmäßig, habe mich nie verweichlicht; während ich meinen Hals schonte, bin ich immer ein Anhänger des Wassers gewesen. Dass ich fast keine Falten im Gesicht habe, danke ich lediglich der Diät. Nur die regelmäßige Lebensweise, die immer gleiche Tätigkeit hindert die Zeit, Breschen in unseren Körper zu legen. Vor allem muss man das Fett verhindern, eine Ablagerungsstelle in unserm Körper zu errichten. Vom Erfolg meiner Theorie geben mein Körper und mein fast faltenloses Gesicht Zeugnis."
Falko Hennig

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  Ausgabe 06 - 2000