Ausgabe 04 - 2000berliner stadtzeitung
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Solidarität statt Popkultur

Ein Großteil linker Gruppen wehrt sich dagegen, dass der Revolutionäre 1. Mai zu einem Pop-Event wird

Wer sich im letzten Jahr am 1. Mai abends nach Kreuzberg verirrte, konnte denken, die Love-Parade wäre an einen anderen Ort und Zeit verlegt worden. Tausende Jugendliche tanzten mit ekstatischen Bewegungen um einen riesigen Wagen, auf dem eine Band spielte. Wer sich weit genug vorgekämpft hatte, konnte vielleicht doch einige Details entdecken, die nicht so recht zu Dr. Mottes Horrorshow passte. Neben der Kult-Band Atari Teenage Riot standen einige Jugendliche mit kleinen roten Fahnen, und ab und an wurde die E-Mail-Adresse "www.antifa.de" eingeblendet.

Tatsächlich handelte sich um jene Revolutionäre 1. Mai-Demonstration, die in ihrer 13-jährigen Geschichte schon viele politische Wandlungen durchgemacht hat. Dabei war ihr Ursprung ganz und gar ungeplant. Am 1. Mai 1987 führte ein Polizeieinsatz auf einem Straßenfest am Lausitzer Platz zu stundenlangen Straßenschlachten. Die Polizei musste sich für mehrere Stunden ganz aus dem Stadtteil zurückziehen. Der Elan dieser Ereignisse reichte in den ersten drei Jahren für die Organisierung der Revolutionären Mai-Demonstrationen völlig aus.

Zwischen Dogmatik und Pop

Doch nach dem Fall der Mauer traten die widersprüchlichen Politikkonzepte offen zu Tage. Ost-Autonome mahnten eine Stalinismusdebatte in der radikalen Linken an. Einige Jahre tobte in den Szeneblättern schon Wochen vor dem 1. Mai eine rhetorische Schlacht zwischen selbsternannten Undogmatischen und den von ihnen als Dogmatiker, autoritäre Linke und schlimmeres qualifizierte. Doch es blieb nicht bei verbalen Angriffen. Auf der Mai-Demonstration prügelten sich Autonome mit Maoisten.

Längst gehören diese Schlachten der Vergangenheit an. Ein Großteil der damaligen Aktivisten hat sich ganz von den Mai-Aktivitäten zurückgezogen. Zwischenzeitlich wurde die Mai-Demo von Kreuzberg sehr zum Unwillen eines großen Teils der Aktivisten und Anwohner nach Prenzlauer Berg verlegt. Im letzten Jahr kehrte sie wieder nach Kreuzberg zurück. Über Inhalte wurde kaum noch gestritten. Die Antifaschistische Aktion Berlin (AAB) hatte die Popkultur als Mobilisierungsmittel für die mehr oder weniger anpolitisierten Jugendlichen entdeckt.

Doch gerade linke Jugendgruppen äußerten scharfe Kritik an diesem Konzept. Statt alternativer Love-Parade sollen in diesem Jahr wieder politische Inhalte im Mittelpunkt stehen. Die sollen mittels eines Unabhängigen Blocks auf der Demo sichtbar gemacht werden. In ihm haben sich mehr als 15 anarchistische, antifaschistische, antiimperialistische und kommunistische Gruppen zusammengeschlossen. Das Bündnisspektrum zeigt die Diskursverschiebung in der linken Szene: Nicht mehr Dogmatiker versus Undogmatische sondern Popkultur oder politische Inhalte. "Für uns ist die Befreiung von herrschenden Verhältnissen nicht mit Pop-Events zu erreichen. Wir wenden uns gegen die Entpolitisierung nicht nur des 1. Mai sondern auch der linken Bewegung insgesamt", heißt es in einem Selbstverständnispapier des Unabhängigen Blocks.

Auch durch die Wahl der Demoroute soll sich die Repolitisierung ausdrücken. War es bisher Praxis, am 1. Mai im eigenen Kiez zu demonstrieren, wagt man dieses Jahr erstmals den Ausflug zu den "Zentren der Macht". Damit trägt die Demovorbereitung den veränderten Bedingungen in Berlin der letzten Jahre Rechnung. Angesichts dieses Wandels haben verschiedene politische Gruppen schon vor Jahren eine Änderung der Demoroute angeregt und vor einer Mystifizierung der Kieze gewarnt. Schließlich hat sich das vielbeschworene "rebellische Kreuzberg" im Zeichen von Umstrukturierungen im letzten Jahrzehnt gewaltig verändert. Im letzten Jahr noch wurde eine Routenänderung von der Mehrheit der Demovorbereitungsgruppe vehement abgelehnt.

Auch in diesem Jahr ist der Kreuzberg-Bezug noch vorhanden. Die Demo soll um 18 Uhr am Oranienplatz starten und am Hackeschen Markt enden. Es handelt sich dabei um keine willkürliche Route. "Kreuzberg ist der Bezirk mit der höchsten Rate an Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern in Berlin. Von dort gehen wir zu den Palästen der Reichen und Mächtigen, ins symbolische Zentrum der Macht", erläutert ein Kreuzberger Alt-Aktivist das Konzept.

Von Kreuzberg zur Macht

Einer weiteren Kritik an der Mai-Demonstration versuchte man im Vorfeld Rechnung zu tragen. Immer wieder wurde kritisiert, dass von den Tausenden, die am 1. Mai auf der Straße sind, das ganze übrige Jahr über wenig zu sehen und zu hören sei, das ganze also mehr den Charakter eines Events habe. In diesem Jahr soll schon im Vorfeld des 1. Mai mit eigenständigen Aktionen zu verschiedenen politischen Themen mobilisiert werden.

Am 28. April wird um 17 Uhr mit einer Kundgebung der Berliner Anti-Nato-Gruppe (B.Ä.N.G.) auf den Breitscheidplatz an den Sieg des Vietcong vor 25 Jahren erinnert. Am 29. April beginnt um 13 Uhr am Kottbusser Tor eine Demonstration, die zur Solidarität mit den Gefangenenkämpfen in der Türkei aufruft. Dort sollen in Kürze Isolationstrakte eingerichtet und die Gefangenenkollektive der politischen Häftlinge zerschlagen werden. Innerhalb des Unabhängigen Blocks der Revolutionären 1. Mai-Demo werden sich die InternationalistInnen in einem eigenen Sektor sammeln.

Wie sich die Staatsseite zu den Mai-Aktivitäten verhält, ist noch völlig offen. Die Vorbereitungsgruppe will bei einem Totalverbot, aber auch bei einem Teilverbot der Demoroute alle juristischen Mittel ausschöpfen.

Doch auch in diesem Jahr sind nicht nur Linke am 1. Mai unterwegs. Die neonazistische NPD plant in Hellersdorf für den späten Vormittag und den Nachmittag des 1. Mai einen Aufmarsch. Antifaschistische Gruppen wollen das rechte Treiben durch ein dezentrales Aktionskonzept verhindern. Wem an diesem Tag mehr der Sinn nach Feiern steht, wird auch in diesem Jahr genügend Gelegenheiten haben. Es wird Straßenfeste am Humannplatz, Mariannenplatz und Rosa-Luxemburg-Platz geben.
Peter Nowak

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