Ausgabe 04 - 2000berliner stadtzeitung
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Skurrile Welten
Der japanische Schriftsteller Haruki Murakami

J. G. Ballard, Philip K. Dick und Ursula K. LeGuin gehören zu den literarischen Helden meiner Jugend. Sie zu lesen bedeutete, das Tor zu einer anderen Sicht der Dinge aufzustoßen, und als ich später Literatur studierte, habe ich mich oft nach ähnlich intensiven Leseerlebnissen gesehnt. Es schien immer schwieriger zu werden, nicht nur einzelne gute Bücher zu finden, sondern wirklich wunderbare neue Autoren zu entdecken. Ein bißchen ist mir das mit Thomas Pynchon gelungen, obwohl da immer eine gewisse Distanz blieb, und mit Kurt Vonnegut, vor allem aber mit Richard Brautigan und eben jetzt mit Haruki Murakami, der wiederum selbst Vonnegut und wohl auch Brautigan verehrt. Mit Brautigan hat er die sehr einfache und doch äußerst poetische Sprache gemeinsam und die sanften, melancholischen Helden, die fast immer unglücklich verliebt sind und in die skurrilsten Abenteuer geraten.

Den Inhalt der Romane Murakamis zusammenzufassen, ist schwierig. Sie bieten eine Vielzahl an Geschichten, die oft nur leitmotivisch untereinander und mit dem Haupterzählstrang verbunden sind. Wenn ich im folgenden ein wenig die Inhalte andeute, sollte man nicht denken, es handele sich um gewöhnliche Science Fiction, Fantasy oder Thriller. Wenn überhaupt eine Schublade, dann vielleicht Magischer Realismus. Das Besondere an Murakami sind seine poetisch-präzisen Beschreibungen des Alltags und die allmählich zunehmenden Verzerrungen desselben hin zum Wunderbaren, Bizarren.

In Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt wird ein junger Mann, der ein entschlüsselungssicheres Codierverfahren im Kopf trägt, in das Labor eines Professors bestellt, das sich tief unter Tokio in der Kanalisation befindet. Um dorthin zu gelangen, muß der Protagonist sich an unheimlichen Kreaturen vorbeischleichen, die sich hier ein unterirdisches Reich aufgebaut haben und gemeinsam mit Agenten der sogenannten Fabrik dem Professor und dem Codierverfahren nachjagen. In einer Parallelhandlung befindet sich der Held in einem Dorf am Ende der Welt, das von einer Mauer umschlossen ist, und wo er die Aufgabe hat, aus Einhornschädeln Träume zu lesen, was ihn nach und nach seine Identität kostet. Wie Murakami diese beiden Handlungsstränge miteinander verbindet, ist großartig. Was zunächst in keiner Beziehung zueinander zu stehen scheint, erweist sich als untrennbar. Die Frage, was eigentlich Identität ist, was sie ausmacht, wird hier mit einer selten erreichten Intensität aufgeworfen und behandelt. In Japan wurde das Buch ein Bestseller und mit einem renommierten Preis ausgezeichnet.

Mister Aufziehvogel ist trotz des unspektakulären Titels das Meisterwerk Murakamis, dessen erstes Kapitel (in einer anderen Übersetzung) auch als eigenständige Erzählung in den Band Der Elefant verschwindet aufgenommen wurde. Das Verhältnis von Erzählung und Roman ist allerdings wirklich das der sprichwörtlichen Spitze zum Eisberg. In der Erzählung wird nicht einmal angedeutet, daß es im Roman nur so wimmelt vor Figuren mit übersinnlichen Fähigkeiten: zwei seltsame Schwestern, die eine Wahrsagerin, die andere ein Medium; eine Modeschöpferin, die eigentlich Wunderheilerin ist und einen stummen, sehr gut aussehenden Sohn hat; eine kesse Sechzehnjährige, die im Mondlicht eigenartige Dinge tut; ein alter Leutnant, der im japanisch-chinesischen Krieg unglaubliche Grausamkeiten erlebte und einfach nicht sterben darf; schließlich der gemütliche Held, arbeitslos und Hausmann, der alle diese Leute wie ein Magnet anzieht und der selbst, wie sich bald erweist, ein paar seltsame Angewohnheiten und Eigenschaften hat: psychische Störungen heilen; durch Wände gehen; im Traum Dinge tun, die Wirklichkeit werden; in tiefe Brunnen hinabsteigen und die Dunkelheit erfahren. Wie der junge Mann nach und nach aus seinem Alltag herausgezogen wird und sich in ein ungemein feingliedriges Netz aus phantastischen Erlebnissen und Leitmotiven verstrickt, wie er lernt, zwischen verschiedenen (Traum-)Welten zu pendeln und dabei auch einen Baseballschläger zu gebrauchen, wenn es notwendig ist, das erzählt Murakami sehr gelassen, sehr geduldig und äußerst spannungsreich und hypnotisierend. Es ist sicher keine Lektüre für Leser, die auf Thriller stehen. Man muß sich Zeit nehmen für die Hauptfigur, für ihre beschauliche Ehe, für Geplauder im Garten, für die Zubereitung des Abendessens, für Frauen am Telefon, die sich weigern, ihren Namen zu nennen.

Für Einsteiger bietet sich der deutlich kürzere Roman Wilde Schafsjagd an. Er besticht u. a. durch die sehr detaillierte und erotische Beschreibung von Mädchenohren und erneut spielt ein (diesmal ultrarechter) Kriegsveteran, der großen Einfluß in der Politik hat, eine wichtige Rolle.

Jeder Text Murakamis vermittelt sofort einen Eindruck von der einzigartigen Stimmung seiner Werke. Wie bei Ballard sind Atmosphäre und Hauptfiguren immer sehr ähnlich. Wenn man diese Konstellation, diese Stimmung, diese sanften, gelassenen Männer- und Frauenfiguren mag, dann umhüllt einen der Text schon bald wie ein Mantra. Und man wird süchtig.

Kürzlich ist sein neuestes Buch mit dem trashigen deutschen Titel Gefährliche Geliebte bei Dumont erschienen.
M.G. Burgheim

Haruki Murakami in deutscher Übersetzung:
Wilde Schafsjagd DM 19
Der Elefant verschwindet DM 12
Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt. DM 49
Mister Aufziehvogel DM 49
Gefährliche Geliebte DM 40

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